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Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minka Pradelski
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ihr plötzlich Vergnügen. Als Opfer hatte sie sich Kotek auserkoren, weil der unablässig um ihre Gunst warb. Kotek, Kätzchen, war Joels Spitzname. Wir nannten ihn so wegen seines lautlosen Ganges. Seine Schritte waren klanglos, als würde er nur mit den Fußspitzen den Boden berühren, man hätte schon ein Ohr an den Boden legen müssen, um sein Kommen an den Vibrationen zu spüren. Kotek wollte nicht aufhören, die Polin anzustarren. Er gab sein gesamtes Taschengeld aus, um ihr zu imponieren, er bot ihr Schokoladenzigaretten Marke Ajas an, die teuerste Marke, die auch von nahem einer richtigen Zigarette zum Verwechseln ähnlich sah, aber nicht nur die Polin, kein Einziges von uns Mädchen beachtete ihn, denn er war der Kleinste und Jüngste in unserer Klasse. Dazu war er noch feingliedrig, von zartem Körperbau mit geradezu mädchenhaft ausgebildeten Händen und Füßen. Die hochmütige Polin wollte auch in späteren Jahren nicht zugeben, dass sie und die anderen Kameradinnen sich bloß für die großen Kerle interessierten, die die Klasse schon zum zweiten Mal machten.
    Kotek war hoffnungslos in die Polin verliebt. Er ließ sich von ihr quälen, er war beglückt, wenn sie ihm überhaupt Beachtung schenkte. Die Polin wusste das. Sie lachte ihn aus und fand dazu immer einen neuen Anlass. Es war ein böses, hämisches Lachen, gerade so, als überschüttete sie ihn mit Eimern voller bläulicher Quallen. Kotek, der Narr, verzieh ihr den grausamen Spaß. Irgendwann, Kotek hat es wahrscheinlich nicht bemerkt, hörte sie auf ihn zu quälen. Dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, Kotek beim Rado zu verpetzen. Der Rado hielt in seiner Eigenschaft als Vertrauenslehrer Sozialstunden bei uns ab, bemühte sich aber insbesondere um die Erziehung seiner männlichen Schüler. Ermahnte sie, sich wie Kavaliere auf der Straße zu benehmen, das schwache Geschlecht freundlich zu grüßen, die Mütze respektvoll zu ziehen. Eines Nachmittags begegnete Kotek unverhofft der Polin auf der Straße. Er starrte sie voller Bewunderung an und vergaß, die Mütze zu ziehen. Worauf die Polin ihn tags darauf in der Sozialstunde beim Rado verpetzte. Der ließ Kotek zur Strafe zehnmal den Hut ziehen. Die hochmütige Polin sah sich die Exerzitien mit großem Vergnügen an, nickte huldvoll bei jeder Verbeugung, majestätisch wie eine Königin. Der Rado ließ sie gewähren, rügte sie nicht, weil die Erziehung der Mädchen nicht so wichtig war.«
    Frau Kugelmann lehnt sich zurück und seufzt tief, dann fährt sie fort:
    »Später, hier in Israel, ist etwas Unglaubliches passiert: Die hochmütige, freiheitsliebende Polin ist eine Zeit lang fromm geworden. Wie das kam? Sie konnte es sich nicht verzeihen, dass sie am letzten in Freiheit begangenen höchsten Feiertag tatenlos zugesehen hatte, wie vor ihren Augen ein Verbrechen geschah. Es war genau zehn Monate, fünfundzwanzig Tage und zweiundzwanzig Stunden vor dem Einmarsch. Der von der Schule verbannte Weinreb besuchte seine Eltern zu den hohen Feiertagen. Er hatte in der Nähe der Synagoge eine Seifenkiste aufgestellt, die er besteigen wollte, um eine Rede an die Frommen zu halten. Er bat die Polin, die wackelige Seifenkiste festzuhalten, damit er bei der dramatischen Rede, die er zu führen gedachte, nicht das Gleichgewicht verlieren und von dem brüchigen Podest fallen würde. Aus alter Freundschaft willigte die Polin ein. Es war Jom-Kippur-Abend, als die Frommen nach einem langen Fastentag hungrig und durstig aus der Synagoge strömten. Der Weinreb schrie, die Frommen sollten sich nicht so untertänig zu Bütteln und Sklaven ihrer Religion machen, und bewarf sie mit Dreck und Abfall aus einem mitgebrachten Mülleimer. Die Polin grämt sich, dass sie den Weinreb gewähren ließ. Sie begreift nicht, weshalb sie am Leben blieb, während der Weinreb und all die anderen Unschuldigen in den Gaskammern erstickten. Nachts, während der ersten Jahre in Israel, kamen die Frommen zu ihr ins Zimmer, umringten ihr Bett und blickten sie mit ausgetrockneten Augen an. Sie beschuldigten die Polin, sie erniedrigt zu haben, ehe die Mörder kamen. Um dem nächtlichen Tribunal zu entgehen, ist die Polin fromm geworden. Als sie wieder schlafen konnte, hat sie sich von heute auf morgen von der Religion abgewandt.
    Einige Jahrzehnte später, etwa eine Woche vor den hohen Feiertagen, beklagte sich die Polin, die Frommen seien wieder in ihrem Schlafzimmer, diesmal aber, um sie zu holen. Zwei Tage später schlief sie am

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