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Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minka Pradelski
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Pension gegeben, weil sie annahmen, dass ich, ihre zarte Tochter, aus Müdigkeit von der täglichen langen Bahnfahrt die Schule schwänzte. Ich durfte erst am Wochenende nach Zawiercie zu meinen Eltern und Geschwistern zurück.
    Bei Frau Smigrod fühlte ich mich wie ein verwaistes, von der Familie verlassenes Kind und vermisste sogar nach kurzer Zeit den Schreihals Heniek, diesen unerträglichen Zwerg, der meine Mutter völlig für sich in Anspruch nahm. Bei Frau Smigrod wohnten zwei junge Frauen als Pensionsgäste, die ich tagsüber nie zu Gesicht bekam. Ich war ihr jüngster Gast, und Frau Smigrod wusste mit mir nichts Rechtes anzufangen. Ich war ihr lästig. Tagsüber unterzog sie die Zimmer ihrer Pensionsgäste einer gründlichen, nie enden wollenden Inspektion, nahm jedes Wäschestück auseinander, kroch unter die Betten, durchsuchte die Schränke nach Beweisstücken amouröser Abenteuer. Staubbedeckt, die Augen fiebrig, schwer atmend, die aschgrauen langen Haare aufgelöst, öffnete sie mir nachmittags mürrisch die Tür, erzürnt darüber, dass ich schon so früh von der Schule zurückkam und sie bei ihren Schnüffeleien störte. Tröstlich war nur der leckere Morgengruß, den meine Mutter mir durch meinen wilden Bruder zukommen ließ. Sie schickte mir ein frisches, kross gebackenes Brötchen mit meinen geliebten Eierspeisen, nach denen ich mich so sehr sehnte. Der wilde, ungestüme Bruder achtete darauf, dass das Brötchen die Bahnfahrt unversehrt überstand, überreichte es mir am frühen Morgen in der ersten Pause, vermied es, mich dabei anzusehen, und rannte nach der Übergabe so schnell er konnte davon.«

Die stolze Polin
    Frau Kugelmann prüft verstohlen, ob ich ihr noch zuhöre. Ein wenig darf die alte Dame noch erzählen, aber bloß nichts Langweiliges, sonst verliere ich die Geduld. Ich nicke ihr gönnerhaft zu. Frau Kugelmann atmet tief durch, entspannt sich, verzieht ihren Mund zu einem breiten, gelösten Lächeln, und die Falten um ihre kugelrunden Augen vertiefen sich.
    »Dummerweise«, fährt Frau Kugelmann fort und leckt sich dabei genüsslich mit der Zungenspitze die Oberlippe, »entging der neugierigen Frau Smigrod die saftigste Liebesgeschichte, die sich direkt vor ihren Augen abspielte, denn ich, Frau Smigrods jüngster Pensionsgast, war verliebt! Ich war mit Haut und Haaren der stolzen Polin verfallen. Ich himmelte sie an, vergötterte sie. Frau Smigrod hätte meine Leidenschaft, wenn sie mich überhaupt beachtet hätte, ohnehin nur als Schwärmerei abgetan, als Gefühlsverirrung einer kleinen unreifen Schülerin. Ich aber litt Qualen, musste täglich in der Nähe der stolzen Polin sein, um den Tag zu überstehen. Ich unternahm alles, um sie so oft wie möglich in Frau Smigrods Wohnung zu locken. Heimlich habe ich ihre Uhr zurückgestellt, die sie während der Aufgabenzeit auf den Tisch zu legen pflegte, damit sie eine Stunde länger bei mir blieb. Unablässig beobachtete ich sie, beschäftigte sie immer wieder aufs Neue, ließ keinen Moment Langeweile aufkommen. Wenn meine Bewachung erfolgreich war, und das war sie meistens, blieb die Polin bis zum frühen Abend, und das war mehr als schön.
    Alle Burschen, die ihr zu nahe kamen, verscheuchte ich durch kleine, raffiniert eingefädelte Intrigen. Ganz besonders achtete ich auf meinen Freund Kotek, denn der war auch verliebt in sie. Gleich am ersten Tag, als die Polin von der polnischen Schule in unsere Klasse kam, blickte Kotek auf ihre großen, kräftigen Füße und bekam starke Gefühle. Die Polin war gut zwei Köpfe größer als er, hatte schwarze tiefliegende Augen, eine bernsteinfarbene Haut, kinnlanges widerspenstiges Haar mit unzähligen ölig glänzenden schwarzen Kringeln und Locken, die in jede Himmelsrichtung wuchsen, und zwei Granatäpfel unter der Bluse; in den Hüften stark wie eine Bärin, stand sie mit zwei herrlich festen Beinen auf unserer Erde.
    Anfangs haben wir Chaia, die Neue, ›die große Polin‹ genannt, weil das hochgeschossene Mädchen aus einem polnischen Mädchengymnasium auf unsere Schule kam. Später allerdings hieß sie bei uns nur noch ›die Polin‹. Chaiele wurde sie zärtlich von ihren Eltern genannt. Die Eltern waren kultivierte assimilierte Juden, weitgereiste Leute, Weltbürger im kleinen Bendzin. Sie sprachen untereinander Esperanto und glaubten an die Bildung als völkerverbindendes Element aller Kulturen. Ihre vier Töchter besuchten eine polnische Schule, die sich in der Nähe der Wohnung

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