Und da kam Frau Kugelmann
wie erstarrt auf meinem Balkon. Was tun? Sich unter dem Bett verkriechen oder hinausrennen auf den Flur? Nur noch wenige Minuten verbleiben mir, um die richtige Entscheidung zu treffen. Ich überlege fieberhaft. Mein Herz pocht, kostbare Zeit verrinnt – bis zum ohrenbetäubenden, alles vernichtenden Knall. Ich verbiege mich, spähe verzweifelt zu den Nachbarn hinauf. Alle Balkone sind mit Schaulustigen bevölkert. Mich den Voyeuren anschließen? Wie viele von ihnen haben überhaupt Terrorerfahrung? Darf ich mich ihnen anvertrauen? Soll ich vom Balkon aus einer Explosion zusehen? Oder aus dem Hotel rennen, gleichgültig wohin? Was tun? Unterdessen leert sich der Strand. Die Polizei sperrt weiträumig ab. Zwei Jugendliche wagen sich neugierig vor, werden brutal zurückgestoßen. Ein mit Panzerweste und Panzerhose bekleideter Mann lotst schwerfällig einen grauen Lieferwagen mit offener Hintertür an den Strand, bewegt sich dann mühsam auf eine herrenlose Tasche zu, die er mit einem Haken und einem Seil an das Führerhaus des Lieferwagens bindet. Die Tasche wird sanft auf die gepflasterte Strandpromenade gezogen. Die Menge weicht zurück. Eine schmale Rollbahn wird aus dem Lieferwagen ausgefahren, auf der sich ein ferngelenkter grauer Spielzeugpanzer schnell und sicher zur Erde bewegt. In drei Metern Entfernung schießt der kleine gepanzerte Roboter ein Projektil auf die Tasche. Sie fliegt in die Luft, zerfetzt in winzige umherfliegende Teilchen. Die Menge zerstreut sich augenblicklich, in geradezu beängstigender Stille. Kein Klatschen, kein Wort des Beifalls ist zu hören. Der Strand bevölkert sich wieder, als würde ein angehaltener Film nach kurzer Unterbrechung fortgesetzt. Weiterleben, so tun, als habe es keinen Zwischenfall gegeben, lautet die hier gültige, ungeschriebene Lebensordnung. Ein einsamer Polizist liest mit einer eisernen Harke die am Boden liegenden versprengten Fetzen in einen mit Zellophan ausgekleideten Eimer auf, während ich noch auf meinem Balkon stehe und zittere. Ich wage kaum, mich zu rühren. Was wäre, wenn die Tasche nun vorsätzlich am Strand zurückgelassen worden wäre, um die Aufmerksamkeit von Polizeikräften und Zuschauern auf den Köder zu konzentrieren, währenddessen ein Attentäter sich unter die Menge der Schaulustigen mischt und ein anderer sich unbemerkt in das Hotel einschleicht? Ich sehe schon die Schlagzeilen: Junge Frau im Hotelzimmer von einer Bombe zerfetzt. Liftboy auf dem Weg zur Hotelhalle vereitelt großen Anschlag, jagt Attentäter in ein Hotelzimmer, wo er sich aus Verzweifelung in die Luft sprengt und dabei die junge Touristin aus Frankfurt, die sich zufälligerweise im Zimmer befand, mit in den Tod reißt. Warum unter den hunderttausend Hotelzimmern dieser Stadt hat es ausgerechnet meines treffen müssen? Diesmal bezahle ich mit dem Leben, weil meine kaltblütige Doppelgängerin mir mein Zimmer streitig macht. Lebe ich noch, oder bin ich schon tot? Ich taste mich vorsichtig ab. Erschöpft greife ich nach einem Obstmesser, das sich in einem kleinen Obstkorb – ein Willkommensgruß der Hotelleitung – befindet, und öffne die Tür des kleinen Hotelkühlschranks. Mit kaltem Schweiß auf der Stirn löse ich vorsichtig den festgefrorenen Eisbehälter heraus und schäle mir zitternd ein winziges Eisflöckchen aus dem Eis. Ein Trostpflaster für die erlittene Qual. So ein kleines Flöckchen darf ich mir wohl genehmigen, schließlich bin ich nur mit knapper Not dem Tod entkommen, sage ich mir. Ein Notfall zählt nicht als Rückfall, tröste ich mich. Was kann ich dafür, dass ein kleines Tröpfchen Wasser sich bei starker Kühlung in Eis verwandelt? Verzaubere ich Regen in Schnee? Habe ich Eisberge in der Antarktis oder einen Eissee im Ural zu meinem privaten Vergnügen erschaffen? Ich bin unschuldig, mich trifft keine Schuld, vielmehr muss ich gegen die herzlose Natur standhalten, die mich unter Aufbietung all ihrer Verführungskünste zu Fall bringen will.
Aufhören ist ganz leicht, ein Kinderspiel, nicht mehr als eine Handbewegung, ganz einfach nur das verräterische Messerchen wegstecken, fallen lassen, sich nicht bücken, es unbeachtet auf dem Boden liegen lassen. Ich brauche kein Eis, will es nicht, habe es nie gewollt. Zum Glück ist es bei einem einzigen Flöckchen geblieben. Ich hasse Eis. Wenn ich Eis sehe, überfällt mich ein Brechreiz, ein grässlicher, würgender Ekel. Ich fühle Übelkeit in mir aufsteigen und freue mich darüber. Denn der
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