Und da kam Frau Kugelmann
ob ich in das Gesicht eines jungen Mädchens blicke.
Einfach davonrennen! Wie gerne hätte ich mir als Kind diesen Traum erfüllt. So eine lustige Reise nach Abessinien hätte ich meinen schweigsamen Nachkriegseltern nicht zumuten können! An ein kindliches Abenteuer haben meine Eltern ohnehin nicht denken können, überall lauerten Gefahren für mich. Ein zu langes Verweilen im Kinderzimmer erschien ihnen verdächtig. Sie rissen erschrocken die Tür auf, um nach mir zu sehen. Niemals habe ich, und sei es auch nur für einen Augenblick, die Wohnung verlassen, ohne mich von ihnen lautstark zu verabschieden, ja, ich bin noch nicht einmal auf den Balkon gegangen, ohne es bel-lend anzukündigen. Aus jedem Kratzer auf meiner Haut hätte im Übrigen eine tödliche Blutvergiftung entstehen können. Einen Laib Brot mit einem Brotmesser aufschneiden, eine Kerze mit Zündhölzern anzünden, Fahrradfahren, all das erschien ihnen zu gefährlich für mich. Erst am Tag meiner Volljährigkeit habe ich mir erlaubt auf ein Rad zu steigen und bin mit dem Stolz einer Vierjährigen um unseren Häuserblock geradelt. Wenn ich mich mit Adam vergleiche, dann genoss er als Kind eine geradezu paradiesische Freiheit. Wie schön es gewesen sein muss! Wenn ich noch mehr über den kleinen Ausreißer höre, werde ich Adam um seine freien Bendziner Jahre beneiden! Unsinn, sage ich mir. Ich muss zusehen, dass die alte Dame möglichst bald aus meinem Zimmer verschwindet.
»Mein wilder Bruder David ist auch einmal ausgerissen«, sagt Frau Kugelmann, setzt sich wieder und greift nach ihrem Wasserglas. Eine Geschichte noch, denke ich grimmig, dann aber weise ich ihr knallhart die Tür. Doch sie beachtet mich nicht, sie ist schon viel zu weit weg von mir, tief in ihren Erinnerungen versunken.
»Mein wilder Bruder, der David, ist an einem Feiertag, an Lag Baomer, ausgerissen. Warum er an einem Feiertag ausgerissen ist, lässt sich nicht ergründen, aber plötzlich war er nicht mehr da. Die Eltern haben ihn durch die Polizei suchen lassen, und schließlich wurde er auf einer Hachschara, einem Ausbildungslager für Palästina-Anwärter, gefunden. Die Polizei benachrichtigte die Eltern, sie mögen ihn abholen, denn er weigerte sich mitzugehen, und der Direktor der Hachschara schützte ihn. Mein Vater trug meiner Mutter die heikle Aufgabe auf, ihn wieder einzufangen. Mutter löste tags zuvor Karten für die Reise nach Lodz. Ich habe zugesehen, wie sie sich Reiseproviant in einen Eierkorb einpackte, mit einem karierten Geschirrhandtuch abdeckte und obendrauf drei rote Äpfel packte, die mein Bruder so gerne aß. Heniek, der Schreihals, wurde mir anvertraut, schrie sich aber nach der Abreise meiner Mutter die Seele aus dem Leib, so dass ich in meiner Verzweiflung mir keinen anderen Rat wusste, als ihm meine Zunge tief in sein Mündchen zu stecken. Er beruhigte sich augenblicklich und schlief glücklicherweise für ein paar Stunden ein.
Meine Mutter entdeckte meinen wilden Bruder auf einer Anhöhe und beobachtete hinter einem Baum versteckt, wie er einem jungen Mädchen beim Austeilen der Semmeln half. Als er sie sah, wollte er davonlaufen, sie aber lief hinter ihm her, packte ihn am Ärmel und schrie: ›Du brauchst nicht davonzulaufen, kannst ruhig nach Palästina fahren, aber wisse, ich reise mit dir und lasse den Vater, deine älteren Brüder, den Säugling und Bella alleine zu Hause zurück!‹
Bei dieser Schreckensvision zuckte mein wilder Bruder zusammen, fügte sich und trat ohne Widerrede mit ihr die Heimreise an. Während der Bahnfahrt aß er hungrig den Proviant auf, den die Mutter für ihn vorsorglich eingepackt hatte.«
Als Frau Kugelmann das Zimmer verlässt, lege ich mich noch einmal ins Bett. Niemand erwartet mich. Ich habe Zeit nachzudenken. Die Polizei als Freund und Helfer der Juden? Die polnische Polizei fing also jüdische Kinder ein und brachte sie mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen zu ihren Eltern zurück? Lügen. Ammenmärchen! Für mich sind die Blauen Polizisten, nach der Farbe ihrer langen dunkelblauen durchgeknöpften Mäntel benannt, nichts anderes als ein Rudel verkleideter Wölfe. Sie haben mit der lustigen Schirmmütze auf dem Kopf gemeinsam mit den Deutschen die Gettos liquidiert. Darüber habe ich die Eltern mit ihren Gästen beim Abendessen reden hören. Für mich gelten ihre Worte. Mag sein, dass es ein friedliches Davor gab, aber in meinem Kopf gibt es keinen Platz für eine andere Wahrheit.
Meine Eltern
Weitere Kostenlose Bücher