Und da kam Frau Kugelmann
und ich waren nie zu dritt am Tisch. Rund um den Tisch saßen allabendlich die Gäste der Eltern. Hochstapler, Gauner, Schmarotzer, Durchreisende. Wie eine Bahnhofsmission nahmen die Eltern alle Fremden auf, die sich ohne Familie auf der Durchreise in Frankfurt befanden. Jeder wusste, dass er bei Silberbergs abends eine warme Mahlzeit bekam. Man saß eng beieinander, der Esszimmertisch blieb immer ausgezogen, mir fremde Menschen bewegten sich klappernd, mehrsprachig, lautstark. Niemand beachtete mich. Ich saß unauffällig am Tisch, lauschte, bat um Nachschlag, um länger aufbleiben zu können. Wenn keiner hinsah, schob ich das Essen in eine auf den Schoß gelegte Stoffserviette und warf es beim nächsten Gang in die Toilette. Zwischen Suppe und Vorspeise waren die Gäste zum Streiten aufgelegt, bei der Hauptspeise wurden Geschäfte geschmiedet, Ehen arrangiert. Beim Nachtisch war die Stimmung der Gäste meist versöhnlich. Das süßliche Apfelkompott, eingekocht mit Zimt und Zitrone, lag einschläfernd wie ein schwerer Brei im Magen, die Stimmen wurden hörbar sanfter, leiser. Mutter erhob sich und löste die Tafel auf. Man bedankte sich und kniff mir zum Abschied in beide Wangen. Mit hochrotem Gesicht ging ich ins Bad und rieb mir mit einem kalten Tuch das brennende Gesicht.
Zum dritten Mal klopft das Zimmermädchen laut und fordernd an die Tür, obwohl die Plastikkarte mit dem leuchtend roten Ruhezeichen unübersehbar an meiner Tür baumelt. Alle anderen Zimmer seien gemacht, sagt sie leise, aber deutlich hörbar, sie warte nur auf mich. Dann blickt sie sich im Flur um und flüstert mit kaum verhohlener Wut: »Wenn alle Gäste so wären wie Sie, würde ich nie fertig werden.« Um sie loszuwerden, entbinde ich sie der Pflicht, mein Zimmer zu reinigen. Sie lächelt erfreut. »Ich heiße Chana«, sagt sie. Eifrig reicht sie mir frische Handtücher ins Zimmer, streicht schnell noch das Bett glatt, legt einige kleine Seifenstücke und mehrere mit Pralinen gefüllte weiße Schächtelchen, mit dem Aufdruck des Hotels versehen, auf den Bettrand. Sie blickt mich dabei fragend an, als wolle sie sich vergewissern, ob ich tatsächlich in einem solchen Zimmer zurückbleiben will. Dann schließt sie mit sanftem Druck die Tür.
Ich recke mich im Bett, gähne und versinke übernächtigt in einen kurzen, leichten Schlaf. Es ist, als ob ich in einer Wiege liege, die sich sanft bewegt. Ich gleite nach Bendzin. Die Stadt ist in dichten Morgennebel gehüllt, so dass ich die Umrisse kaum erkenne. Der schöne Adam und die junge Bella locken mich an einem frühen herbstlichen Morgen in den Wald. Ich hinterlasse meinen Eltern einen Zettel, dass sie sich nicht sorgen mögen. Ich kehre bald zu ihnen zurück. Jetzt aber will ich frei sein. Wie glücklich ich bin! Ich fühle pures Glück durch meinen Körper rinnen. Als wir zurückgehen wollen, finden wir den Weg nicht mehr. Stundenlang irren wir im Wald umher. Schweißgebadet wache ich auf, mit Frau Kugelmanns Stimme in meinem Ohr. Es ist ein heiserer andauernder Flüsterton, der mich umnebelt. Ich bin umzingelt von ihren Bendzinern. Sie lassen mich nicht mehr los.
Als ich auf den Flur trete, scheint es mir, als trüge ich ihre Stadt auf meinen Schultern, als hätten die Bendziner ihre Arme und ihre Beine um meinen Hals geschlungen, um mich am Weitergehen zu hindern. Mich zieht es in das Zimmer zurück. Langsam, Schritt für Schritt, kämpfe ich mich durch. Erst als ich durch die gläserne Drehtür ins Freie trete, ernüchtert mich die kochende Hitze des Tages so weit, dass ich wieder zu mir komme. Wie ein glühender Keil dringt die heiße Luft in meinen Kopf, durchtrennt die ineinanderfließenden Zeiten. Langsam erwache ich. Ich bin nicht Tausende Kilometer nach Israel geflogen, um mich von zweifelhaften Schulgeschichten einer älteren Frau einfangen zu lassen. Ich habe ein klares Ziel vor Augen. Ab sofort sorge ich nur noch für mich, fahre nach Petach Tikva, um mein Erbe abzuholen. Ich werde mich auf der Suche nach meinem Glück nicht mehr beirren lassen. Notfalls wird mich Tante Halina in mein Glück einmauern, damit ich nicht mehr herausfallen kann. Ich muss nur im Besitz ihres Erbkoffers und des Fischbestecks sein, und schon bin ich mitten im Glück!
Aufgeregt und nervös wie ein junges Fohlen, das über eine Hürde springen soll, steige ich am Nachmittag in das bestellte Taxi. Ohne meine Erlaubnis einzuholen, nimmt Koby, der Chauffeur, noch zwei weitere weibliche Fahrgäste
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