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Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minka Pradelski
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Abend, wenn die Nacht kam und die Ökonomie, die das Leben in Bendzin bestimmte, müde wurde und schlafen ging, da kamen so leichte Gedanken, und Golda hat verschiedene Überlegungen angestellt und sich gefragt, wann sie sich wohl in einen solchen Stein verwandeln würde, schon im nächsten Jahr oder erst am Ende ihres Lebens, und ob ihr Stein, zu dem sie erstarren würde, eine besondere Form hätte, ob es sein könne, dass auf ihrem Stein, ganz zart, nach längerer Zeit, von Schnee und Regenwasser ausgewaschen, Hammer und Sichel erschienen, und ob ein solcher Stein nicht schöner wäre als alle verheirateten Menschen.
    Die Eltern schickten Golda nach dem Rausschmiss nach Sosnowiec, zum jüngsten Bruder des Vaters. Man hat damals die kommunistischen Kinder nach einem Rausschmiss in eine andere Stadt geschickt, wir aber haben auf so eine kleine Völkerwanderung nicht geachtet. Der Onkel mochte die Nichte mit dem hüftlangen Haar, er nahm ihre Überzeugung nicht ernst, weil der Kommunismus sich nicht behaupten würde. Im Kommunismus könne man kein Geld verdienen, und nur auf das Geldverdienen kam es dem reichen, wohlgenährten Onkel an.
    Der reiche Onkel stellte der bürgerlichen Hanoar Hazioni, unserer zionistischen Jugendorganisation, an der ihm sehr viel lag, wunderschöne elegante Räume mietfrei in seinem Haus zur Verfügung. Sie waren tausendmal schöner als die verwahrlosten Zimmer der linken zionistischen Haschomer Hazair, der Bewegung für die Arbeiterkinder. Und weil die Räume so schön waren und weil man in Sosnowiec nicht ganz so streng war, wurden viele Arbeiterkinder zur Hanoar Hazioni geschickt.
    In Goldas Eltern nährte sich die Hoffnung, ihre Tochter würde allein den Arbeiterkindern zuliebe am Jugendtreffen Gefallen finden. Aber es ist wieder anders gekommen. Als die Kinder zum Treffen in das Haus des Onkels kamen, konnte Golda vor Lachen nicht an sich halten, sie hat auf der Treppe gesessen, die Haare nach hinten geworfen und hat ihr lautestes Lachen gehabt, ein Lachen, das in Sosnowiec viel stärker war als in Bendzin, weil es von niemandem eingedämmt wurde. Es klang wie ein Wasserfall, und aus jedem Atemzug schöpfte sie erneut Kräfte für den nächsten sprudelnden Anfall, der aus ihrem Innersten herausbrach. Die Sosnowiecer Jugend hatte ein solches Lachen noch nie zuvor gehört. Erst als sie, angesteckt durch Golda, ebenfalls zu lachen anfingen, kam Golda allmählich zu sich. Hier gäbe es nichts zu lachen, sagte sie. Die Jugend solle vielmehr aufwachen und die Zeichen der Zeit erkennen. Palästina sei ein Land ohne Zukunft, das ganze zionistische Treffen ein Marionettenspiel, die Tänze, das hebräische Gesinge und das Indoktrinieren der kleinen Kinder diene nur dazu, die Wirklichkeit zu vernebeln. Nur in der kommunistischen Bewegung würden die Juden in Freiheit leben, Seite an Seite mit dem Rest der befreiten Welt.
    Golda kommandierte in Sosnowiec eine geheime kommunistische Zelle und war gerade dabei, kleine Unterzellen zu bilden, als sie und ihre Gruppe von Geheimagenten verhaftet wurden. Golda wurde nach Bendzin zurückgebracht. Ein Jahr vor dem Einmarsch sperrte man sie ohne Prozess in das Bendziner Stadtgefängnis. Als Erstes schnitt man ihr das hüftlange Haar, dann wurde sie in Einzelhaft genommen und musste getrennt von ihren Freunden in einer schmutzigen feuchten Zelle hausen. Mit dem Ziele, die als gefährlich geltende Golda mürbe zu machen, entließ man sie in unregelmäßigen Abständen nach Hause. Zu Hause lebte sie wie auf Heimaturlaub und wusste nie, wann sie von der politischen Polizei abgeholt und mit Schlägen wieder ins Gefängnis zurückgetrieben werden würde.
    Bei den Eltern zog sie sich nach dem Mittagessen wie gewohnt zur Lektüre ihrer alten Bücher in ihr Zimmer zurück. ›Golda‹, schrie der verzweifelte Vater, ›wann wirst du endlich zur Besinnung kommen und wieder ein Mensch werden?‹ Das Schreien rührte Golda sehr, denn so ein Geschrei gab es nur in den Ferien. Im Alltag, eingemauert in der steinernen Zelle, sprach niemand ein Wort zu ihr. Man hat sie noch nicht einmal aus Erbarmen, um die grausame Stille zu durchbrechen, wenigstens einmal am Tag angeschrien.
    Zurück in ihrer Zelle, kauerte sich Golda in die hinterste Ecke und starrte unentwegt auf die rohe steinerne Wand, bis sie eines Tages eins mit ihr zu werden begann. Sie wurde steif und unbeweglich in den Gliedern, ihr Gesicht nahm die gräuliche Farbe der Wände an, am Kopf und an den Beinen

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