Und da kam Frau Kugelmann
groß, wie man bei seiner Körpergröße vermuten könnte, denn er war hoch und hager gewachsen, die Ohren aber waren klein und fielen gar nicht auf, dennoch hörte er mit seinen kleinen Ohren fast jeden noch so winzigen Ton und zugleich das Zusammenspiel der verschiedenen Geräusche. Hätte er gewusst, wie außergewöhnlich seine Begabung war, wäre er vielleicht Kapellmeister geworden, so aber verzichtete er auf die Musik, weil die Ungenauigkeit des Grammophons seine empfindlichen Ohren so schrecklich störte.
Wenn er aber nur den ersten Anflug eines Hüstelns hörte, wusste er, was daraus werden würde, ein paar unruhige Nächte mit anschließender Erholung oder gar ein Ende mit blutigem Auswurf. Er wusste es gleich, hatte aber sehr oft nur bescheidene Mittel zur Heilung dagegen. Seine Augen waren wie zwei kleine Mikroskope, sie umkreisten den Krankheitsherd auf der Suche nach Ursachen für die entzündete Haut oder den schlimmen Finger, ihnen entging keine noch so kleine Erhebung, und die ertappten Zellen gaben in kurzer Zeit das Versteckspiel auf und entblößten sich vor ihm. Bei jeder Krankheit kontrollierte Dr. Goldstaub eingehend die Zunge, als sei sie der wahre Übeltäter, sie musste weit herausgestreckt werden, die Farbe des Belags von gelblich bis zum blässlichen Grün wurde bei Licht angesehen, wobei Dr. Goldstaub ganz nah an seine Patienten herantrat und auch ein wenig schnupperte. Denn, so sagte er, jede Krankheit verströme ihren eigenen Geruch. Manche Krankheiten versuchen unerkannt zu bleiben, deshalb sei es schwierig, sie zu entlarven. In den wenigen Fällen, wenn ihm die Diagnose nicht gelang, nahm er mit einem Holzstäbchen einen kleinen Abstrich und schaute sich alles noch mal gründlich mit der Lupe an.
So außerordentlich fein war sein Geruchssinn, so meinte jedenfalls Kotek, dass Dr. Goldstaub bei einer Mahlzeit herausschmecken konnte, was es bei dem vorigen Mahl für ein Gericht auf diesem Teller gegeben hatte. Kotek fand es sehr schade, dass Dr. Goldstaub seine wunderbaren Gaben verschwendete, um kranke Leute zu heilen, statt seine erstaunlichen Fähigkeiten auf Jahrmärkten vorzuführen. Er hätte doch den überraschten Besuchern ihre vorhergehende Mahlzeit beschreiben können oder vielleicht auch noch gegen einen Zuschlag ihnen das Abendessen voraussagen können, wobei Kotek gerne mit einem großen Hut herumgelaufen wäre, um die verdutzten Leute um Geld zu bitten. So wäre Kotek gerne mit Dr. Goldstaub von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gezogen, er hätte sogar das Geld von den armen Leuten genommen. Kotek hätte sich ganz sicher über das störende Bendziner Gefühl hinweggesetzt, das seinen Freund, den armen Dr. Goldstaub, so sehr behinderte.
Dr. Goldstaub hatte seine Praxis mit den Wohnräumen zur Malachowskiego, zu unserer Hauptstraße hin. Wir alle gingen samstags auf unserer Hauptstraße spazieren, das war eines unserer großen Vergnügen, viel anderes gab es in Bendzin nicht. Denn sonntags fing die Woche für uns an, da mussten wir zur Schule gehen. Beim Spazieren trafen wir so manche bekannte Familie, so dass man alle zehn Meter den Hut ziehen musste, um hier Schneidermeister Stopnizer und da an der Kreuzung Frau Smigrod zu begrüßen, dort wieder den Jacob Teitelbaum, der mit seiner hübschen kräftigen Frau und seiner Tochter Marysia daherspazierte, die wiederum den störrischen weißen Pudel Keitusch fest an der Leine führen musste. Da wieder Gutka Fürstenberg mit ihrem polnischen Mann, die zum Ärger ihres Vaters nicht bereit war, auf die samstägliche Promenade zu verzichten. Manchmal lohnte es sich gar nicht, den Hut wieder aufzusetzen, am besten wäre es gewesen, den Hut griffbereit in Kopfhöhe mit der Hand zu halten und so zu spazieren. Aber es kam ja nicht auf Schnelligkeit an, sondern auf die Höflichkeit und Ehre, da musste der Hut mit einer ausladenden Verbeugung vom Kopf gezogen werden.
Dr. Goldstaub ging nicht gern spazieren, das Hutziehen langweilte ihn. Er beobachtete lieber von oben, vor seiner Fensterbank stehend, wie man unten auf der Straße hin und her flanierte und sich begrüßte, und er weihte seinen kleinen Freund Kotek in die Kunst des Beobachtens ein. Besonders beim Ziehen der Hüte, erklärte er Kotek, kam es auf den Grad des Winkels an, mit dem der Hut vom Kopf gezogen wurde, daran erkenne man die Wertschätzung des Grüßers, man sehe die Wirkung auf das Gegenüber, und wenn man genau hinschaue, dann spiele sich so manche Komödie beim
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