Und da kam Frau Kugelmann
aufzuzählen. Fliegt die Wimper bei einem einzigen Namen davon, werde ich mich sofort auf die Suche nach dem Namensträger begeben. Wahrscheinlich verliere ich zu meinem Unglück keine einzige Wimper. Ich sehe mich schon tagelang vor dem Spiegel stehen, ziehend und zerrend, aber keine Wimper erbarmt sich und löst sich vom Lidrand ab, im Gegenteil, sie sind wie festgepappt. Mehr noch, die Wimpern verlieren ihren seidigen Glanz, verdicken sich, verhärten sich, wachsen unaufhaltsam zu gräulichen, stählernen Stäben heran, die langsam meine Wangen und das Kinn bedecken, Stahlwimpern, hinter denen mein Gesicht wie unter einem heruntergelassenen Visier verschwindet. Wer soll sich da noch in mich verlieben?
Nein, ich gebe die Hoffnung nicht auf. Wenn mir ein Mann mit einem Fischnamen vorbestimmt ist, werde ich ihn finden. Ich muss mich konzentrieren, jeder Spur, jeder Frage, die mir in den Sinn kommt, nachgehen. Wer überhaupt ließ das Besteck anfertigen? Wer legte Wert auf ein so schönes Fischbesteck? Hat Halina das Besteck noch aus Polen mitgebracht, aus Kalisz? War Kalisz dafür bekannt, dass die Einwohner ihren Karpfen mit besonders schönen Bestecken aßen? Wollte Tante Halina etwa, dass ich nach Kalisz blicke? Wie sah die kleine Stadt überhaupt aus? Mir ist nichts über sie bekannt, außer dass sie sich ebenso wie Bendzin in der Nähe der deutschen Grenze befindet.
Am Nachmittag ringe ich mich durch, im ohrenbetäubenden Geschäftstreiben der Allenbystraße nach einer Buchhandlung zu suchen. Ich will auf einer polnischen Landkarte nachsehen, wo sich Kalisz befindet. Warum, denke ich, habe ich mich nie auf die Suche nach Vaters Stadt begeben? Musste Halina mich erst darauf stoßen?
Vor dem Hoteleingang entdecke ich Koby in einer langen Reihe wartender Taxis und fahre mit ihm unter dem Protest seiner Kollegen davon. Koby ist mein Taxifahrer, ich werde in kein anderes Taxi steigen. Er fährt heute nur für mich allein, nimmt keine weiteren Fahrgäste mit und hält auf meinen Wunsch mitten auf der Allenbystraße.
»Soll ich auf dich warten? Für dich stehe ich mir doch gerne die Räder eckig«, sagt er augenzwinkernd und sucht meine Augen im Rückspiegel.
»Nein, bitte warte dieses Mal nicht«, sage ich bestimmt.
»Was hast du bloß davon, wenn du die Stadt deines Vaters findest?«
»Halte dich da raus, Koby. Zwischen den Geburtsorten unserer Eltern gibt es keine Verbindung«, sage ich wütend.
»Außer dass wir, die Kinder unserer Väter, heute gemeinsam in einem Tel Aviver Taxi sitzen!«, sagt Koby und dreht sich triumphierend zu mir um.
»Woher stammen deine Eltern eigentlich?«
»Aus dem Irak. Ich aber bin schon in Tel Aviv zur Welt gekommen.«
»Du hast sicher eine große Familie.«
»Ja, das habe ich«, verkündet er stolz. »Sie sind alle hier.«
Dann schluckt er und fügt leise hinzu: »Meine Familie wurde aus dem Irak vertrieben.«
»Schlimm genug«, sage ich. »Aber niemand wurde vom Holocaust berührt.«
»Trotzdem gehört der Holocaust zu uns.«
»Wieso?«
»Weil wir alle Juden sind«, sagt er schlicht. Koby zählt die Namen einiger von Juden entvölkerter ukrainischer Städte auf, die er durch einen kürzlich aus der Ukraine zugewanderten Kollegen kennt, der samstags sein Taxi fährt. Von Kalisz und Frau Kugelmanns Bendzin hat er noch nie etwas gehört.
Er lässt mich aussteigen und fährt noch ein Stück neben mir her.
»Hör auf zurückzuschauen!«, schreit er durch das heruntergekurbelte Fenster, »lerne von uns, schau nach vorn in die Zukunft!«
Allein gelassen, zögere ich. Koby hat Recht, ich sollte umkehren. Vater wollte die Stadt vergessen. Eine brüske, unwillige Kopfbewegung, das war seine einzige Regung, wenn der Name Kalisz am Esszimmertisch der Eltern erwähnt wurde. Sollte ich das Vergangene nicht ruhen lassen? Nein, ich werde mir Kalisz entgegen Vaters Willen näher ansehen. Mühsam, schleichend wie eine Schildkröte, bewege ich mich vorwärts, entdecke ein von Sicherheitskräften gut bewachtes schattiges Straßencafé. Getarnt als durstige Touristin, kehre ich ein und bestelle auf ein Mal zwei gesüßte Getränke. Die Cola gieße ich hinter dem Rücken des Kellners auf den Boden und fische die Eiswürfel aus dem Glas, packe sie in einen kleinen Zellophanbeutel, den ich immer bei mir trage. Die Eiswürfel im Mund trösten mich, sie machen mich stark. Sogar der kreisende Helikopter über meinem Kopf und die aufgedrehten amerikanischen Sirenen der
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