Und da kam Frau Kugelmann
Grüßen ab, man erkenne darin auch Freundschaft und Hass.
Dr. Goldstaub sah so manchen Broiges, so manchen Streit, zum Beispiel den Streit von Donnebaum und Rosenholz, die sich gar nicht mehr grüßten. Die Väter waren zerstritten wegen ein paar Zloty, die einer dem anderen schuldete, doch Donnebaum und Rosenholz konnten sich nicht einigen, wer denn der wahre Schuldner sei. Der Streit erfasste Frauen und Kinder, und so gingen die Rosenholz-Kinder und Donnebaum-Kinder grußlos aneinander vorbei, mit angehaltenem Atem und steifen Hälsen. Am nächsten Samstag jedoch konnte der Streit der Familien schon wieder beendet sein. Dr. Goldstaub achtete nur auf die Kinder. Liefen die Rosenholz-Kinder, bevor die Väter sich auf der Straße begegneten, freudig den Kindern der Familie Donnebaum entgegen, dann wusste Dr. Goldstaub, dass der Streit beendet war.
Dr. Goldstaub kannte fast die ganze Stadt namentlich und beobachtete auch von oben mit medizinischem Blick Spazierschritt und Beweglichkeit, ob einer gebeugt oder aufrecht ging, ob einer den Fuß nachzog oder einer gleichmäßig lief oder ob einer beim Laufen große Pausen einlegte. Er wusste lange im Voraus, bevor die Betroffenen es überhaupt ahnten, wer wohl in Kürze ihn in der Ordination als Patient aufsuchen würde.
Hätte Dr. Goldstaub ein paar Kilometer weiter in Sosnowiec gewohnt, wie viele von unseren Schülern, die von Sosnowiec mit der Bahn jeden Morgen zu uns kamen, wäre es mit dem Beobachten weitaus komplizierter gewesen, denn da sah es auf der Hauptstraße ganz anders aus.
Dort wohnten weit weniger Juden als in Bendzin, dort ging jede Religion für sich spazieren, aber nicht etwa zu einer bestimmten Tageszeit. Nein, es gingen Juden und Christen zur selben Zeit auf der Hauptstraße spazieren, jeder auf einer anderen Seite. Die Juden gingen auf der linken Seite und die Christen auf der rechten, das war keine Verordnung von der Regierung, das tat man aus Gewohnheit schon so seit vielen Jahrzehnten, und keiner aus den beiden Gruppen wollte die Straßenseite wechseln und zu den anderen hinübergehen. Und so ging ein Teil der Familien aus Sosnowiec mit Ärzten, Eisenhändlern, Schustern, Schneidern und Wäscherinnen auf der einen Seite, während unter dem gleichen Himmel auf der anderen Straßenseite die anderen Ärzte, Eisenhändler, Schuster, Schneider und Wäscherinnen, einander grüßend, hin und her spazierten.
Golda
Dr. Goldstaubs Schwester Ria, eine zarte kleine, früh ergraute Frau, war mit Kuba, einem weit entfernten Vetter meiner Mutter verheiratet. An den hohen Feiertagen kamen sie immer zu uns. Die Ehe blieb lange kinderlos, dann brachte Ria ein gelbliches kränkliches Mädchen zur Welt, das sie nach meiner verstorbenen Großmutter Golda nannten. Wöchentlich nahm Dr. Goldstaub seine schwache Nichte in Augenschein, wog und maß sie, besprach den kräftigenden Speiseplan, nach dem täglich sechsmal kleine Mahlzeiten verfüttert werden mussten. Nach einem Jahr voller ermutigender Fortschritte entwickelte sich die kleine Golda zur Freude der Familie prächtig, sie wuchs und gedieh.
Golda war eine gute Schülerin, und sogar die Kleinowa, unsere strengste Lehrerin, die wegen eines einzigen Fehlers seitenlange Aufsätze verriss, war voll des Lobes für sie. Es war erschreckend, dass Golda, ein Mädchen wie du und ich und dazu noch eine Verwandte, plötzlich nicht mehr auf unserer Schule bleiben durfte. Aber ganz so wie wir war Golda nun auch wieder nicht. Sie hatte wache, tiefschwarze Augen, ein eckiges Kinn, eine weiße, blasse Haut und trug das lange, glatte, kupferfarbene Haar ungeflochten bis zur Hüfte. Sie lachte laut, hustete laut, klatschte laut in die Hände, und vor allem war sie eine sehr laute Kommunistin und hat ihre Parteizugehörigkeit geradezu herausgeschrien. So laut, dass der Herr Direktor es nicht überhören konnte und auf die Provokation gegen Schule, Staat und Nation reagieren musste, und zwar mit einem Rausschmiss. Beim Rauswurf zeigte sich der Direktor von seiner schäbigsten Seite, besser gleich weg mit den verdächtigen Kindern, bevor die Prüfungskommission misstrauisch wurde und das Gymnasium die hart erkämpfte staatliche Anerkennung des Abiturs verlor.
Der Direktor Smolarski war erzürnt über die hohe Zahl der kommunistischen Schüler, in den oberen Klassen waren es etwa drei oder vier, dazu gerechnet noch die Dunkelziffer derjenigen, die ihre wahre Gesinnung verborgen hielten und sich erst nach dem bestandenen Abitur
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