Und da kam Frau Kugelmann
in den politischen Kampf stürzten. Und er fragte sich in den durchwachten Nächten, ob unter seinen Lehrern nicht auch ein fauler Apfel verborgen sei, pardon: ein Kommunist. Denn schließlich war die kommunistische Partei verboten, und das sicher aus gutem Grund. Später zeigte sich, dass die in Polen verbotene Partei sogar von der Sowjetunion, also von ihren eigenen Leuten, wegen trotzkistischer Umtriebe aus der kommunistischen Familie ausgestoßen wurde, da sah man ja, wie weit den polnischen Kommunisten zu trauen war.
Eines schönen Tages also, es war im Frühling kurz vor den Pessachferien, war Golda auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Ob das Verschwinden als ein heimliches zu bezeichnen ist, lässt sich schwer sagen. Sie wurde ja nicht bei Nacht und Nebel, eingehüllt in eine Decke, die Augen verbunden, aus der Schule abgeholt. Die Heimlichkeit bestand darin, dass sie plötzlich weg war, ohne Vorankündigung, und keiner darüber Bescheid wusste, noch nicht einmal der kluge Gonna, ihr bester Freund. Über den Vorfall wurde an der ganzen Schule auffällig geschwiegen, so als hätten sich alle Schüler mit dem Direktor verschworen, als würde der Übermittler der Nachricht sich durch die bloße Namensnennung selbst in die Gefahr eines Rausschmisses begeben.
Auch unsere Klasse schwieg natürlich, sogar der schlaue Gonna, der auf das engste mit Golda verbunden war. Die Freundschaft, die Gonna und Golda miteinander pflegten, war so tief, dass der eine sofort wusste, was im Kopf des anderen vor sich ging. Wenn Gonnas Mund ja sagte, obwohl Gonnas Kopf nein meinte, ist Golda auf das Gedankennein eingegangen und hat darauf geantwortet. Es gab außer dem Nein und Ja noch weitaus kompliziertere Fälle, und die beiden haben eine so geheimnisvolle Sprache miteinander gesprochen, dass keiner von uns ihnen folgen konnte.
Als sie für längere Zeit beim Unterricht fehlte, dachte Gonna, dass Golda erkrankt sei. Er lief zu ihrem Haus und rief ihren Namen, aber sie erschien nicht wie gewohnt am Fenster, um ihm zuzuwinken. Als sie dann über eine Woche fehlte, ahnte er, dass sie nicht wiederkommen würde. Nach einiger Zeit ließ er sich in der Pause im Klassenzimmer einschließen. Er sah sich als ihr legitimer Erbe an und löste ihr Fach unter der Bank auf. Einen Teil des Erbes versteckte er im Klassenschrank, damit ein Stück von Goldas Geist erhalten bleibe. Es waren Flugblätter, frisch entworfen von einem noch unbekannten Rat der Gerechten. Unter der Bank befanden sich ein paar Kekse, ein polnisch-russisches Wörterbuch, ein halbfertiger Text über skrupellose Fabrikbesitzer in jiddischer Sprache. Alles gut und schön, nur wäre da nicht auch ein Plan zur Inszenierung eines Klassenkampfes gewesen, ein revolutionärer Aufstand in unserem Klassenzimmer. Gonna missfiel die Aufteilung nach Klasse und Schicht, waren da doch ein paar seiner engsten Freunde, die er nun als Klassenfeinde bekämpfen sollte. Nach reiflicher Überlegung warf er die militanten Pläne in den Papierkorb. Dort blieb alles ganz friedlich liegen, ohne dass der Papierkorb sich entzündete und in roten Flammen aufging.
In Goldas Familie aber spielte sich eine Tragödie ab, als ihre Eltern erkennen mussten, dass sie eine Kommunistin großgezogen hatten. Golda wurde wie eine Ausgestoßene behandelt, eine Kriminelle, die fähig ist, für ihre Überzeugung die ganze Familie ins Unglück zu stürzen. Eine Zeit lang haben sich die Eltern aus Scham samstags nicht auf die Paradestraße gewagt. Sie wollten sich den mitleidigen Blicken entziehen, mit denen sie überhäuft wurden, weil sie doch eine Verbrecherin in ihrem Haus aufgezogen hatten. Goldas jüngerer Bruder, das Fischele, verlor durch Goldas lautstarkes Auftreten seinen liebsten Spielkameraden, den Elias, Koteks jüngsten Bruder, weil man den bösen Einfluss der Golda fürchtete.
Es kam noch schlimmer. Golda teilte den Eltern mit, dass sie nicht zu heiraten gedenke und keine bürgerliche Familie gründen werde, mit der man samstags auf der Hauptstraße promenieren ginge. Der Vater beschimpfte sie, drohte, sie aus der Familie zu verstoßen, sie für tot zu erklären, sieben Tage lang Schive zu sitzen und das Totengebet für sie aufzusagen. Jedes Mädel habe zu heiraten, schrie er außer sich vor Rage, denn allein bleibt nur ein Stein, und sie werde eines Tages, wenn sie so weitermache, sich noch in einen Stein verwandeln. Golda ging der Vergleich mit dem Stein lange nicht aus dem Kopf. Besonders am
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