Und da kam Frau Kugelmann
Ambulanzfahrzeuge, die an mir vorbeirasen und aufheulend von einem weiteren Anschlag künden, können mir nichts anhaben. Mit Eiswürfeln im Mund bin ich immun gegen die Angst.
In der Buchhandlung schlage ich eine alte Landkarte auf, Lwow, Siedlce, Nowy Sacz fallen mir ins Auge. Lauter Namen von Städten, aus denen die Gäste meiner Eltern stammten, die rund um unseren Esszimmertisch saßen. In meinem Kopf befindet sich Polen im Krieg. Überall sehe ich in den Buchstaben, aus denen sich die Städtenamen zusammensetzen, Tod und Verwüstung, entvölkerte Straßenzüge, leere Wohnungen, aufgerissene Dachböden, aus denen man die versteckten Bewohner heraustrieb. Ich rieche die Angst, sehe die Flüchtenden, wie sie in die Arme der Schmalzowniks laufen, dieser habgierigen Erpresser, die sie ausrauben. Vereinzelt zeigt sich eine rettende Hand, eine mitleidige Bäuerin, ein humaner Hausbesitzer, eine entsetzte Nonne, ein Liebender, der seine Geliebte vor den Häschern versteckt. Wo sind die geraubten, herrenlos gebliebenen Möbel, der versteckte Schmuck, die bestickten Tischdecken, das zurückgelassene Tafelsilber? Kein Bauer wurde nach dem Krieg der Denunziation und des Raubes angeklagt. Kein Priester ist wegen Judenhetze von der katholischen Kirche zur Verantwortung gezogen worden. Die buckligen Massengräber auf den Feldern, die verwahrlosten, geschändeten alten Friedhöfe, deren Grabsteine man zur Ausbesserung der Häuser benutzte, man ließ sie zu Müllhalden verkommen. Einmal erzählte uns ein Durchreisender am Tisch meiner Eltern, einer der nach dem Krieg in sein Schtetl Kamiensk zurückkehrte, um es noch am gleichen Abend wieder zu verlassen, dass er mit ansehen musste, wie die zurückgelassenen Gebetsmäntel der Frommen von den Dorfbewohnern zum Aufwischen der Böden verwendet wurden.
In tausend Stücke zerrissen, zerfetzt ist die leidenschaftliche Hassliebe, die einst die Juden über Jahrhunderte an ihre polnischen Nachbarn band. Stattdessen schlug mir am Esszimmertisch meiner Eltern ein von Verwünschungen durchsetzter wilder Hass auf die Polen entgegen, der stärker war als der Hass auf die anonymen deutschen Mörder. Ich trage den Keim dieser doppelten Saat in mir. Ein Windhauch genügt, die Setzlinge schießen wuchernd empor und verbreiten ihr kaltes Gift in meinem Körper.
Mit dem Finger fahre ich südlich die Landkarte entlang. Kalisz, Wieruszow, Czestochowa, Bendzin. Alles Städte nahe der deutschen Grenze. Gab es nicht Dutzende solcher kleinen Städte, die sich einst geborgen im Schoße des polnischen Mutterlands um die Sonne drehten? Von Kalisz nach Bendzin sind es genau 150 Kilometer. Ich weiß nichts über Vaters Stadt. Kenne keinen einzigen Straßennamen, weiß nicht, wie die Nachbarn hießen, habe keine Ahnung, ob es in Kalisz Bauernfänger gab oder reiche wohltätige Industrielle. Ob die Armen zum Feldscher gingen und ob es in Vaters Stadt einen alteingesessenen Arzt gab, der die Armen aus Mitgefühl umsonst behandelte? Wohnten in beiden Städten Familien, die einander verblüffend ähnelten? Hatten die Bewohner ähnlich klingende Namen? Waren Freude und Kummer gleichermaßen verteilt? Ob Kalisz und Bendzin einander glichen wie zwillingsgleiche Planeten?
Zähflüssig vergehen die letzten Minuten. Ungeduldig stehe ich schon am Morgen geschminkt und angezogen an der Tür und erwarte Frau Kugelmann. Ich begrüße sie im Flur mit einem Schwall halb gestammelter Worte.
»Erzählen Sie bitte heute nichts von Ihren Schulkindern«, beschwöre ich sie, »berichten Sie einfach von Bendzin, wie die Stadt aussah, die Straßen, die Bäume . . .«
»Was soll denn das?«, unterbricht sie mich beleidigt. »Wollen Sie mir etwa vorschreiben, was ich Ihnen zu erzählen habe?«
»Nein, ich möchte mehr über Bendzin wissen«, sage ich, »wie die Straßen aussahen.«
»Sie meinen, wen man auf der Straße traf?«, sagt sie, ohne auf meine Frage einzugehen. »Warum wollen Sie das überhaupt wissen?«
»Ich will eben mehr über Ihre Stadt wissen.«
»Haben Sie Gefallen gefunden an meiner Stadt?«, fragt sie freudig.
»Ja«, antworte ich. Mag die alte Dame doch glauben, was sie will.
»Die Straßen waren wunderschön, sauber, gepflegt, wir Kinder haben darauf geachtet, dass kein Papierchen auf dem Pflaster herumfliegt«, sagt sie erregt. »Acht oder neun Luxusautos hatten wir in Bendzin, die gehörten den großen Industriellen. Wir standen mit offenen Mündern da, wenn sie vorbeifuhren, was selten genug
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