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Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minka Pradelski
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Hühnerfleisch gibt.«
    »Dann kochen Sie freitags kein Huhn mehr«, riet ein Gast.
    »Ein Freitagabend ohne gekochtes Huhn?«, erboste sich ein Zweiter, »das soll ein Schabbat sein?«
    »Es sind doch nicht der Karpfen, die Suppe und das Huhn, die den Schabbes heiligen!«, rief ein Dritter.
    »Ob Sie Huhn servieren oder nicht, was macht es schon«, sagte ein Vierter. »Der Krieg hat uns alles genommen, auch unseren Glauben. Wir feiern den Schabbes nur noch aus Erinnerung. Lassen Sie das Kind ruhig auf der Mundharmonika spielen.«
    Man unterbrach das Essen, ein Streit entbrannte, flaute ab, die Gäste sahen mich erwartungsvoll an. Ich spielte hurtig ein Lied nach dem anderen, während Vater sich von unserem Dienstmädchen Erika die letzten Hühnerreste aus der Küche bringen ließ. Er gab sich völlig seinem kannibalischen Treiben hin, verdrehte den Kopf, saugte den Geist aller tierischen Ahnen aus den Knochen auf. Ich litt unter Ängsten, er würde sich auf seinem Stuhl sitzend in einen Neandertaler verwandeln, seine Kleidung fiele von ihm ab, die Haare wüchsen ungestüm aus seinem Körper, webten einen Pelz um ihn, und aus seinen Fingern brächen riesige schwarze Krallen hervor. Nichts von alledem geschah. Nach dem letzten Knochen schnellte Vater aus der archaischen Abgeschiedenheit seines Mahls hervor, um elegant und geübt wie ein Kellner, mit der Hand auf dem Rücken, unseren nichtsahnenden Gästen Wein nachzuschenken.
    Ich war ein folgsames, scheues Kind. Nur ein einziges Mal rebellierte ich. Im Alter von zwölf Jahren weigerte ich mich eines Tages, in die Schule zu gehen. Ich wollte mit Vater reden. Ich lief hinter ihm her, ich schrie, ich flehte »Vater sprich mit mir, ein einziges Mal!« Er antwortete nicht. Er verließ das Haus, kam erst nach Mitternacht zurück. Am Morgen, als ich nicht mehr aufstehen wollte, haben die Eltern mir das Frühstück ans Bett gebracht. Vater winkte mit der Schultasche. Ich blieb liegen und rührte mich nicht. Die Eltern zerrten mich aus dem Bett, kleideten mich an, trugen mich zur Haustür. Ich fiel ihnen in die Arme, wie ein Hampelmann, hatte keine Kraft mehr in den Beinen. Sie brachten mich zurück ins Bett. Man berief ein Konsilium, verordnete, spritzte, bandagierte, nichts konnte mich zum Aufstehen bewegen. Ich rührte mich nicht. Nach drei Wochen bekam ich eine Privatlehrerin, Fräulein Dübenow, eine ältliche pensionierte Studienrätin, die mich im Bett unterrichtete wie eine bettlägerige Kranke. Sie brachte die Schule zu mir. Jedes Quadrat meiner Daunendecke, das durch den dünnen Bettbezug schimmerte, war ausgefüllt mit Bleistiften, Lineal und Notizblöcken. Nach acht Tagen wurde es mir im Bett zu eng, ich stand auf, zog mich an, schlüpfte in die Schuhe und bewegte mich fest und sicher auf meinen Beinen.
    Am Esszimmertisch haben Fräulein Dübenow und ich weitergearbeitet. Die Tischklingel war das Pausenzeichen, ich lief um den Tisch herum, wie auf einem Schulhof, und aß mein Pausenbrot. Vor Unterrichtsbeginn legte Fräulein Dübenow eine uralte abgewetzte Geldbörse auf den Tisch, in der sie ihre Armbanduhr aufbewahrte. Ich starrte während des Unterrichts gebannt auf das Portemonnaie, als könne ich durch das Leder hindurch die Uhrzeit erkennen. Fräulein Dübenow nahm erst nach Beendigung des Unterrichts ihre Uhr heraus, überprüfte die Zeit. Sie hat den Unterricht ohne Uhr abhalten können, so stimmig war ihr Zeitgefühl. Ich nahm mir vor, wieder zur Schule zurückzukehren, falls Fräulein Dübenow sich ein einziges Mal in der Zeit irren würde. Sie irrte nie, und so wurde ich für die Dauer meiner Schulzeit zu Hause unterrichtet.
    Unter Fräulein Dübenows Anleitung lernte ich Wörterbücher auswendig. Seite für Seite blieben die Wörter in ihrer strengen Ordnung, in alphabetischer Reihenfolge in meinem Kopf haften. Wie ein in Bewegung gesetzter, ferngesteuerter Panzer fraß ich mich durch das Papier, bis ich mit dem Kopf auf den harten Einband stieß. Nach einem Jahr konnte ich ein ganzes zwölfbändiges Lexikon auswendig. Jahrgang und Seitenzahl genügten mir als Angabe, und schon deklamierte ich ein Wort nach dem anderen. Nach zwei vollen Jahren Unterricht hatte ich mir sämtliche Ausgaben der jüngsten Sprachatlanten eingeprägt. Drei Anfangsbuchstaben, und ich erriet das ganze Wort, lokalisierte es in Halbleinen, Goldschnitt und Sonderausgaben. Imitierte die Geräusche beim Umblättern unterschiedlicher Papierqualitäten, dampfte wie die erste

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