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Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minka Pradelski
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Israel wiedergesehen?«
    »Ja, er hatte sich sehr verändert. Ihn quälte der Verrat an den Kameraden, den er aus Eigennutz begangen hatte«, sagt Frau Kugelmann leise und erhebt sich.
    Ich bringe sie zur Tür. Als ich die Tür hinter ihr schließe, durchzuckt mich ein Gedanke. Vater! Was war mit meinem Vater? Ich ringe mühsam nach Luft, setze mich auf Frau Kugelmanns Stuhl. Mir ist schwindelig. Mein Herz schlägt wie wild. Vielleicht hat auch mein Vater einen Verrat an seinen Schulkameraden begangen. Vielleicht litt auch mein Vater Qualen, von denen ich nichts ahne. Niemals werde ich die Wahrheit erfahren. Alle, die mir berichten könnten, sind tot.
    Und Vater sprach eines Tages nicht mehr mit mir. Als ich am ersten Schultag freudestrahlend nach Hause kam, blickte Vater mit regungslosem Gesicht auf meinen neuen Ranzen, und plötzlich sah ich, dass seine Augen in Tränen schwammen. Er sprach an diesem Tag nur das Notwendigste mit mir, blickte weg, als ich auf ihn zukam, ging mir aus dem Weg, sperrte sich für Stunden in seinem Arbeitszimmer ein. Am nächsten Morgen hörte Vater einfach auf, mit mir zu sprechen. Er saß noch am Esszimmertisch, an dem wir unser Frühstück eingenommen hatten, und starrte selbstverloren auf seine randvolle Kaffeetasse.
    »Papa, wir haben keine Aufgaben auf«, sagte ich enttäuscht, »wann gibt es endlich Hausaufgaben für die erste Klasse?«
    Vater blieb stumm, blickte durch mich hindurch. Ich wiederholte den Satz, schrie ihn in sein Ohr. War Vater inzwischen blind und taub geworden? Ich schüttelte an seinem Ärmel, schlug ihm ins Gesicht, Vater rührte sich nicht, antwortete nicht auf meine Fragen. Er verweigerte sich dem Pingpongspiel einer Konversation. Wie ein abgerissenes dünnes Band hingen meine Worte im Raum, Vater fing sie nicht mehr auf.
    Aber zuverlässiger und beredter als jedes väterliche Gespräch war das Geld in seiner Jackentasche, das jeden Morgen auf mich wartete. Ich habe meinen Vater bestohlen. Jeden Morgen habe ich ihm fünf einzelne Markstücke aus der eingenähten schmalen Innentasche seines Sakkos gestohlen, das lose über seinem Stuhl am Kopfende des Esstischs hing. Vater ermunterte mich geradezu zum Stehlen. Er ersetzte abends die gestohlenen Beträge, so dass ich morgens stets neue Münzen vorfand, in der die aufgerollten, aneinander gepressten Markstücke auf mich warteten. Das Geld brauchte ich für meine beiden Freundinnen. Ich bezahlte für sie. Sie ließen sich von mir ins Kino einladen und zu Süßigkeiten am Kiosk. Sie sparten ihr Taschengeld. Ihre Sparbüchsen platzten aus allen Nähten, das gesparte Geld vermehrte sich. Fette Konten wurden in der Bank für sie angelegt, im ganzen Land wurden sie schnell bekannt als die ersten Kindermillionäre. Heldenhafte Sagen erschienen in der Presse über sie, man feierte die glücklichen Eltern und pries die erfolgreiche Erziehung ihrer sparsamen Töchter. Der Lichtkegel fiel auf sie, während ich, die Diebin, abgewandt und unerkannt mit dem gestohlenen Geld meines Vaters ihre wachsenden Bedürfnisse befriedigte.
    Auch als ich begann nur noch kalte Speisen zu mir zu nehmen, sprach Vater kein Wort mit mir. Er verdoppelte die Anzahl der Münzen in seiner Innentasche, fügte ausgewählt schöne Münzen hinzu, erster Prägung, von keiner Hand berührt. Ich ließ die glänzenden Geldstücke durch meine Finger gleiten, legte sie nach langem Zögern zurück. Wollte meine neu entdeckte Liebe zum Kalten nicht für eine Hand voll Münzen verraten und wartete darauf, dass Vater sich an meinen neuen Speiseplan gewöhnte. Irgendwann resignierte er. Er reduzierte die Münzen in seiner Tasche und kehrte zu unserem liebevollen bewährten Maß zurück. Aus Dankbarkeit und Freude bestahl ich ihn nun wieder.
    Wie Taubstumme saßen Vater und ich bei Tisch, während er sich mit Mutter und den Gästen angeregt unterhielt. Er aß riesige Portionen Fleisch, die den ganzen Teller füllten. Er liebte es, am Freitagabend das Mark des Hühnerkleins schlürfend auszusaugen und die gargekochten weichen Knöchelchen zu zerkauen. Die harten unverdaulichen Teilchen spuckte er zielsicher auf die Tellermitte aus. Ich war stolz auf seine starken gesunden Zähne, meine Mutter schämte sich vor unseren Gästen. Sie reichte mir unter dem Tisch eine Mundharmonika, ich sollte spielen, um von Vaters knirschenden Geräuschen abzulenken.
    »Das Kind«, entschuldigte Mutter sich bei den Gästen, »spielt immer, wenn es freitags bei uns gekochtes

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