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Und da kam Frau Kugelmann

Und da kam Frau Kugelmann

Titel: Und da kam Frau Kugelmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minka Pradelski
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klein, er sah schwächlich aus, aber er war geschickt. Er hat jede Bewegung im Zug mit seinem Körper ausbalanciert, denn die Arme musste er stillhalten, weil er sein kleines Kind trug. Die Füße der anderen, die neben ihm standen, haben ihm Platz gemacht, sie haben ihm sogar einen winzig kleinen Abstand gelassen, damit er in den Kurven nicht angerempelt wurde.
    Aber zwei Paar Füße gab es im Zug von großen Männern, die haben während der Zugfahrt angefangen, sich anders zu bewegen. Die Füße sind ihm mit vollem Gewicht auf seine Hausschuhe getreten, von beiden Seiten, und er hat einen starken Schmerz gefühlt. Und dann haben sie noch mal von oben kräftig nachgetreten, damit der Heinz den Tritt bloß nicht vergaß. Der Heinz hat den Tritt auf jeder Zehe einzeln gespürt, und der rechte Fuß ist nach kurzer Zeit angeschwollen. Dieser Fuß hat besonders geschmerzt, weil beim Tritt von oben die schöne Pelzumrandung des Hauschuhs eingedrückt wurde, die hatte an jeder Seite eiserne Nieten, die dem Heinz ins Fleisch schnitten. Als der rechte Fuß anzuschwellen begann, hat sich der grauweiße Stoff sanft ausgedehnt, um den Fuß nicht noch weiter einzuengen. Der Heinz hat gar nicht verstanden, worum es bei den Tritten ging. Da wurde er von den Männern blitzschnell am Arm gepackt und weggerissen und nach hinten gestoßen, so dass mehrere Leute umfielen, die dann wieder ihre Nachbarn zu Boden stießen. Erst als er wieder zum Stehen kam, begriff Heinz, dass es den beiden Männern um den Platz am Fenster ging.
    Durch das Fenster wehte ein schwacher Wind, so dass man gut Luft schnappen konnte, denn im Abteil fing es schon an zu stinken. Aber das Allerwichtigste war, dass man durch das Fenster in die Freiheit sehen und an den Bahnhofsschildern erkennen konnte, wohin die Reise ging. Keiner in dem Zug wusste, dass alle, die sich im Zug befanden, Juden mit polnischen Pässen waren, die schon seit langem in Deutschland lebten. Der Heinz wurde schon in Deutschland geboren und sprach kein Wort Polnisch, war aber eingetragen im Pass seines Vaters. Die Familie hatte eine Flucht bereits geplant, aber nicht ostwärts nach Polen, sie warteten auf Einreisevisa nach Venezuela.
    Eines Nachts wurden sie mit vielen anderen aus ihren Betten geholt, in Züge verladen, zur Grenze nach Polen gebracht und wie ein Sack verfaulter Kartoffeln, die in Deutschland niemand mehr haben wollte, ins Nachbarland abgeschoben, wo die Polen sie auch nicht haben wollten. Schließlich sind die leeren Züge nach Deutschland zurückgefahren, um weitere polnische Juden aufzuladen, die wieder an der Grenze aus den Waggons getrieben wurden.
    Herbert Kanner sah von hinten die Unruhe und hörte das Geschrei. Laut rief er nach seinem Sohn, Heinz solle sich zu ihm durchkämpfen. Aber Heinz antwortete nicht, aus lauter Angst vor weiteren Tritten. Nach langer Zeit hatte der Vater sich zu ihm durchgestoßen. Heinz senkte den Blick nach unten, der Vater entdeckte die Hauschuhe, sah Blut an Heinzens rechtem Fuß und nahm ohne ein Wort zu reden den Sohn zum Stehen auf seine eigenen Füße.
    Bis Zbaszyn ist der Heinz gar nicht gekommen. Alle sind noch auf deutschem Boden aus dem Zug geworfen und mit Gewehrschüssen nach Polen über die Grenze getrieben worden. Der Großvater vom Heinz wurde dabei erschossen. Niemand konnte bei dem Toten bleiben, es wurde wieder geschossen und laut gerufen: Weitergehen, weitergehen, ihr jüdischen Schweine! Der Vater hat die Großmutter Lena, als sie sich weigerte mitzugehen, kurzerhand über die Schulter geworfen. Sie wehrte sich heftig, zappelte und schrie. Der Herbert Kanner hielt seine Mutter mit aller Gewalt an den Händen fest, damit sie nicht zu Boden sprang und wieder zur Leiche des Großvaters rannte.
    Die Großmutter Lena war danach so durcheinander, dass sie nur noch getragen werden wollte. Sobald ihre Füße die Erde berührten, fing sie an zu toben, weil sie den Großvater auf dem Boden hatte liegen sehen. Nur über dem Boden wurde sie ruhig und hatte sogar wieder lichte Augenblicke. Der Vater konnte die Großmutter Lena nicht stundenlang auf dem Rücken tragen, der Heinz hatte selber große Mühe zu laufen, deswegen haben die beiden jüngeren Geschwister, Betti und Anni, eine Schaukel gebildet und die Großmutter in die Mitte genommen. Die Großmutter hat die Arme um die Mädchen geschlungen und sich auf sie gestützt. Der wiegende Schritt hat ihr gut getan, und sie hat sogar angefangen zu singen. Sie hat alte Lieder

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