Und da kam Frau Kugelmann
ich eines Tages Gonnas Tochter begegne«, murmelt sie leise und schaut mich dabei minutenlang von Kopf bis Fuß an.
»Sehen Sie eine Ähnlichkeit zwischen meinem Vater und mir?«, frage ich hoffnungsvoll.
»Ich kann keine entdecken, aber das will nichts heißen, bedenke, wie viele Jahre verflossen sind.«
»Ich will alles über meinen Vater wissen. Erzählen Sie mir schonungslos, wie er war, als er Bendzin verließ. Er war herzlos und kaltblütig, nicht war?«, bedränge ich sie.
Ich sehe, wie ihr Mund sich schmerzlich zusammenzieht.
»Wir alle, nicht nur dein Vater, sind in Schuld verstrickt. Die Schuld klebt noch heute an unseren Händen. Auch wenn wir unschuldig hineingeraten sind, sitzen wir vor uns selbst auf einer grausamen Anklagebank, und es vergeht kein Tag, an dem wir nicht daran denken.«
»Frau Kugelmann, sagen Sie mir rundheraus: Hat Vater damals in Bendzin irgendetwas ahnen können?«, frage ich.
»Wir wussten, dass die Deutschen ihre Juden schlecht behandeln, mehr nicht. Wir lebten sehr nahe an der Grenze, viele haben in Bendzin vor einem baldigen Krieg gewarnt. Aber keiner von uns ahnte, dass dieser Krieg unseren Tod zum Ziel hatte.«
Sie sieht mich starr an, dann wendet sie den Blick ab und fährt fort: »Sehnsüchtig haben wir Gonna nachgewunken, bis der Zug am Horizont verschwunden war. Kotek hat sich aus Verzweiflung, weil er nicht mitreisen durfte, auf die Gleise geworfen. Wir mussten ihn nach Hause zerren. Kotek und ich hatten als Einzige aus unserer Klasse die Folgen der grausamen Behandlung der Deutschen mit eigenen Augen gesehen. Aber der Gedanke, dass wir Gleiches erleiden müssten, kam uns nicht in den Sinn. Das war ein knappes Jahr zuvor, Mitte Oktober, bei der Ankunft von Koteks Verwandten aus Hannover. Da passierte die Sache mit Koteks Schuhen.
Mit Hausschuhen nach Venezuela
Kotek hatte im Frühjahr ein ar schöne neue Schuhe bekommen. Die Mutter hatte sie ein ganzes Stück größer gekauft, damit Kotek sie im Herbst zu den Feiertagen tragen konnte. Die neuen braunen Schuhe sahen schon wie Herrenschuhe aus, sie hatten eine schicke verstärkte Kappe, und Kotek hoffte innigst, darin älter auszusehen, um der stolzen Polin endlich zu imponieren. Als ich bei ihm war, sah ich, dass er hinten an der Ferse herausschlüpfte. Er holte ein Maßband aus dem Nähkorb seiner Mutter und bat mich, seine Füße abzumessen. Gut zwei Zentimeter fehlten ihm, um bequem in den neuen Schuhen zu gehen. Ich zweifelte daran, ob seine Füße bis zu den hohen Feiertagen so schnell wachsen würden. Deshalb riet ich ihm, die Schuhe mit Watte auszustopfen. Kotek lehnte ab. Er entwendete seiner Mutter ein Fläschchen Rizinusöl, mit dem er täglich seine Füße mit Gewalt einmassierte. Zu den hohen Feiertagen konnte Kotek die Schuhe zu seinem Leidwesen noch nicht tragen, die Füße waren trotz der rabiaten Behandlung nicht einen Millimeter gewachsen. Einen Monat später bat er mich erneut, seine Füße abzumessen, denn er hatte aus Ärger die Schuhe seitdem nicht mehr anprobiert. Das war genau der Tag, an dem sein Vetter Heinz aus Hannover in Bendzin ankam. Als Heinz Koteks Kinderzimmer betrat, wich ich zurück, das Meterband fiel mir aus der Hand, so entsetzt war ich über Heinzens Anblick. Er stank grausam, die Knöpfe waren von seinem Hemd gerissen, er war verschwitzt, beschmutzt, seine Haare ungepflegt. Voller Abscheu blickte ich auf seine Füße, er hatte ein zerfetztes Etwas an, von dem er behauptete, das seien in Hannover seine Hausschuhe gewesen. Jetzt aber hingen die alten Lappen an einer Sohle und waren über und über mit Dreck beschmiert. Heinz ist ganz krumm gelaufen, den rechten Fuß setzte er komisch auf, so mit ganzem Gewicht auf der Sohle, um wenigstens mit einem, wie auch immer gearteten, Schuh Koteks elegantes Kinderzimmer zu betreten.
Schweren Herzens musste Kotek seinem Vetter Heinz die ungetragenen Schuhe überlassen. Ich sah, wie sehr der zwei Jahre ältere Vetter Heinz sich schämte. Die Tränen, die er sich verstohlen abwischte, rannen ihm über das Gesicht. Doch Heinz nahm das erzwungene Geschenk an, sonst hätte er barfuß laufen müssen.
Die Kanners kamen an einem eiskalten Oktobertag an, Heinz und seine beiden Schwestern, Betti und Anni, die Eltern, Liane und Herbert, und die singende Großmutter Lena. Sie besaßen nur noch die Kleidung, die sie am Leibe trugen. Der Heinz war wahrscheinlich der einzige Reisende, der mit seinen Hausschuhen in den Zug gestiegen ist. Und das
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