Und da kam Frau Kugelmann
gesungen, traurige und lustige, mit einer schönen hohen Stimme, und bei den endlosen Wiederholungen alles in der gleichen Tonlage so wiedergegeben, als sei sie wieder ein junges Mädchen, das dem Leben voller Hoffnung entgegenblickt.
So ging die Familie einige Kilometer zu Fuß bis zur Grenzstadt Zbaszyn, die singende Großmutter in den Armen. Mehr zu tragen hatten sie ohnehin nicht. Unterwegs haben sie von den Bauern Brot und Milch ausgeteilt bekommen, aber die Großmutter hat noch nicht mal einen Happen Brot zu sich genommen, sie hat ohne Pause weitergesungen, sogar im Zug, bis sie in Bendzin angekommen sind.
Dort brachte man die verwirrte Lena einen Stock höher zu Dr. Goldstaub in die Ordination. Er untersuchte sie, hörte sie gründlich ab. Leider, sagte er bedauernd, müsse die Familie sich auf ihren baldigen Tod vorbereiten. Lenas Puls sei bedenklich verlangsamt, die Durchblutung gestört. Die Kanners hegten Zweifel an der tödlichen Diagnose, aber Kotek sagte mir, dass er mit Schrecken an die anstehende Schive mit den vielen Besuchern denken würde, denn es sei schon jetzt viel zu eng in der Wohnung.
›Aber die Großmutter Lena ist doch noch am Leben! Wie kannst du an ihr Begräbnis denken!‹, sagte ich entrüstet.
Doch Kotek war davon überzeugt, dass Lena in wenigen Tagen sterben würde. Das habe er Dr. Goldstaub sagen hören. Dem Arzt vertraue er blindlings. Dr. Goldstaub sei für ihn eine Autorität. Denn als Kotek vier Jahre alt war, erkrankte er einmal an einer doppelten Lungenentzündung. Dr. Goldstaub kam ohne Aufforderung dreimal am Tag an sein Krankenbett und hörte den schwachen Jungen ab. Kotek war so krank und schwach, dass es ihn kaum tröstete, als sein Freund ihm ins Ohr flüsterte, er habe einen glitzernden silbrigen Wolf auf der Lunge, von dem er ihn sehr bald befreien werde. Dr. Goldstaub bereitete ihm oben bei sich eine eigens komponierte Medizin, die er in eine kleine, geschliffene durchsichtige Glasflasche abfüllte. Es gab noch kein Penicillin, das Kotek hätte heilen können, und er war nach fünf Tagen so schwer erkrankt, dass auch Dr. Goldstaub sich keinen Rat mehr wusste. Jetzt könne die Medizin nicht mehr helfen, meinte er, Kotek müsse die Krise von allein überstehen. Kotek erinnert sich nur noch, dass das Zimmer voller Verwandter war, die laut weinten und wehklagten. Kotek schlief ein, und im Traum erschien der Wolf und sagte ihm, er wolle ihn jetzt für immer verlassen, um in die silbrigen Wälder seines Heimatlandes zurückzugehen. Kotek schlief sehr lange, und als er endlich aufwachte, stellte er fest, dass es ihm viel leichter auf der Brust war. Er konnte so richtig kräftig ein- und ausatmen. Er erzählte seiner ungläubigen Mutter, der Wolf mit dem silbrig glänzenden Fell, der auf seiner Brust gelegen habe, sei für immer verschwunden und zu seinem Rudel zurückgekehrt. Die Eltern hielten das Gerede ihres Sohnes für einen Fiebertraum und glaubten fest an die wundersame Heilkraft von Dr. Goldstaubs Medizin. Kotek und sein älterer Freund aber wussten es besser, sie haben den silbernen Wolf gesehen.
Und da gibt es noch eine Geschichte, die mit dem Traumsturz, die ist so unglaublich, dass nur Dr. Goldstaub sie verstand, denn von uns Schülern glaubte keiner, dass einer mit einem eingegipsten Bein zu Bette liegt und trotz alledem nur im Traum zu Boden gefallen ist.
Kurz vor seinem elften Geburtstag, als er schon ein wenig in die Nähe der stürmischen Jahre kam, träumte Kotek, dass er nachts in seinem Bett von einem hohen Turm herunterfiel. Er fühlte sehr deutlich den tiefen Fall und das schwindelige Gefühl. Und da der Traum fast jede Nacht vorkam, verlor Kotek allmählich die Angst und gewöhnte sich daran, dass es doch nur ein Traum war und kein wirkliches Fallen. Dem Absturz steuerte er entgegen, indem er sich bequem auf die rechte Seite seines Bettes legte. So schlief er beruhigt bis zum morgendlichen Wecken. An seinem elften Geburtstag spielten er und der schöne Adam bei weit geöffnetem Fenster mit einer Leiter. Sie wollten sich gegenseitig ihren Mut beweisen. Die Mutprobe bestand darin, von einer Stiege aus auf das Fenstersims zu klettern und mit geschlossenen Augen kräftig durchzuatmen. Kotek verlor gleich beim ersten Mal das Gleichgewicht. Er fiel vom dritten Stock mitten in den Garten. Kotek schrie nicht, er blieb stumm, denn während des Fallens geschah etwas Merkwürdiges. Kotek dachte, es sei wieder der Traum, verlor die Angst und legte sich
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