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Und dann der Himmel

Und dann der Himmel

Titel: Und dann der Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Stressenreuter
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Fragen mehr zu stellen, und um gegenüber meinem Vater verlorenes Terrain wieder gutzumachen, achtete ich darauf, möglichst synchron mit den anderen Kirchenbesuchern zu knien, aufzustehen und zu sitzen. Dass das besonders wichtig war in einer katholischen Kirche, hatte ich schon beim ersten Besuch der Messe begriffen. Meine Bemühungen wurden allerdings zum Abschluss des Gottesdienstes von einem weiteren Fauxpas zunichte gemacht.
    Ich habe schon immer gerne und laut gesungen – auch wenn ich mich das heute nur noch unter der Dusche traue –, und als Pfarrer Seligmann alle Kirchenbesucher aufforderte aufzustehen und ein letztes Loblied auf den Herrn zu singen und allen einen schönen Sonntag wünschte, stahl sich ein zuversichtliches Lächeln über mein Gesicht. Ich wusste, dass ich über eine klare, helle Kinderstimme verfügte, auf die meine Eltern besonders stolz waren. Was machte es schon, dass ich das Lied nicht kannte und meine blöde Schwester sich weigerte, ihr Gesangsbuch mit mir zu teilen? Ich würde die Worte einfach heraushören und notfalls von den Lippen meines Vaters ablesen. Die Orgel setzte ein, die Gemeinde holte vor dem ersten Akkord tief Luft, ich hing an den Lippen meines Vaters, spitzte den Mund wie er zu einem O und sang so laut ich konnte: „Großer Klotz, wir hobeln dich …“
    Rechts neben mir faltete sich plötzlich der Körper meiner Mutter auf die Kirchenbank zurück und ihrer Kehle entwich ein lang gezogenes „Hiiiii …“ Ihre Augen begannen zu tränen, ihre Schultern zuckten unkontrolliert und dann hörte ich ihr überraschtes, glucksendes Lachen nach oben steigen und sich seinen Weg nach draußen bahnen. Einige Sekunden später hatte meine Mutter jegliche Contenance verloren, hing halb über die Armlehne der Bank gebeugt, klopfte sich hilflos auf die Schenkel und ergab sich lauthals ihrem Heiterkeitsanfall.
    Mein Vater fand meine Fehlinterpretation seiner Lippenbewegungen allerdings nicht so komisch. Noch während ich erstaunt das Verhalten meiner Mutter beobachtete, konnte ich von der anderen Seite den Luftzug spüren, mit dem seine Hand auf meine Wange niedersauste, und dann zog er mich entschlossen am linken Ohr quer durch die Kirche, vorbei an den Gemeindemitgliedern, die mit verkniffenen Gesichtern verzweifelt versuchten, Haltung zu bewahren. Draußen vor der Kirchentür musste ich mir eine weitere Predigt anhören, diesmal jedoch über die allgemeine Undankbarkeit von Kindern, die absichtlich ihre Eltern bloßstellen, keinen Respekt haben, für die das ganze Leben scheinbar nur eine Lachnummer sei, ob ich denn wirklich wie meine Mutter enden wolle, und ich werde ja schon sehen, was ich davon hätte.
    Natürlich protestierte ich energisch, weil ich mir keiner Schuld bewusst war. Schließlich hatte ich doch nur das gesungen, was alle anderen, inklusive meines Vaters, auch gesungen hatten. Zugegebenermaßen hatte ich den Text auch ein bisschen merkwürdig gefunden – mir war schon die Frage durch den Kopf gegangen, was für ein Klotz wohl gemeint war, und warum sollten wir ihn alle hobeln? –, aber woher sollte ich wissen, was in einem katholischen Gottesdienst korrekt war und was nicht? Ich war schließlich erst fünf Jahre alt. Aber mein Vater war viel zu erbost über meine vermeintliche Frechheit, um sich meine Einwände anzuhören. Das Ostereiersuchen im Garten, auf das ich mich seit dem frühen Morgen gefreut hatte, wurde als Strafe kurzerhand gestrichen und allein in die gierigen, schadenfrohen Hände meiner Schwester Sabine gelegt. Für den Rest des Tages zog ich es vor, meiner Familie aus dem Weg zu gehen, und sinnierte in meinem Zimmer über die großen und unerklärlichen Ungerechtigkeiten, die Kindern von Erwachsenen angetan wurden, und die Untätigkeit Gottes angesichts der Willkür, die mir widerfahren war.
    Hätte ich damals schon geahnt, dass er mir dreißig Jahre später als eine Art Wiedergutmachung einen seiner Engel schicken würde, hätte ich mich vielleicht nicht beschwert.
    Ohne anzuklopfen, kommt Rafael in mein Zimmer. Splitternackt. Während er sich die Haare mit dem Handtuch abtrocknet, starre ich an die Decke und versuche so zu tun, als wäre er gar nicht da.
    „Ich habe nichts zum Anziehen!“ sagt er und sieht mich erwartungsvoll an. „Ich meine, keine sauberen Sachen.“
    Ich deute auf eine Schublade in meinem Kleiderschrank und schaue krampfhaft an der Stelle seines Körpers vorbei, die mich momentan am meisten interessiert. Ist er groß? Ist

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