Und dann der Himmel
er klein? Ist er beschnitten? Hat er rasierte Eier? Endlich traue ich mich, einen Blick zu riskieren, aber gerade in dem Moment hält Rafael, absichtlich oder nicht, das Handtuch davor.
„Links sind Unterhosen, rechts Strümpfe“, erwidere ich ungnädig. „T-Shirts liegen im oberen Fach. Heißt das übrigens, dass wir während deines gesamten … Besuchs meine Klamotten miteinander teilen müssen?“
„Geben ist seliger als Nehmen“, antwortet Rafael geistesabwesend, während er meine Unterhosen durchwühlt und sich für eine dunkelblaue Boxershorts entscheidet. „Du kennst doch die Geschichte vom heiligen Martin, der seinen Mantel mit einem Bettler teilt.“
Ich seufze auf. Noch so eine religiöse Anspielung, und ich gehe die Wände hoch.
Erst als Rafael mit dem Ankleiden fertig ist, fällt mir auf, dass er sich zielsicher meine Lieblingssachen herausgesucht hat: eines der weißen T-Shirts, die so schmeichelhaft geschnitten sind, dass sie selbst da Brustmuskulatur vortäuschen, wo diese nur ansatzweise vorhanden ist, und meine verwaschene Jeans mit dem Loch oberhalb des Knies, das ich in mühsamer Kleinarbeit mit einer Schere hineingeschnitten habe. Da bleibt für mich nur noch die labbrige, braune Cordhose, in der ich einen Arsch wie ein Brauereipferd habe. Der Rest meiner Klamotten müsste, wie schon erwähnt, erst einmal gewaschen werden. Was mich an Rafaels Auswahl besonders wütend macht, ist, dass er in meinen Sachen auch noch besser aussieht als ich.
Rafael blickt mich erwartungsvoll an. „Ich habe Hunger!“ erklärt er. „Warum lädst du mich nicht zum Frühstück ein?“
„Weil ich pleite bin!“ schnauze ich meinen persönlichen Engel an. „Wenn du was essen willst, dann mach doch einfach dieses Zauberkunststück mit dem Brot wie dein Vorgesetzter. Oder schmier dir in der Küche eine Stulle!“
Rafael zieht missbilligend die Augenbrauen hoch. „Die ‚Zauberkunststücke‘, wie du die Wunder Gottes nennst, sind eben genau das: Wunder Gottes. Damit meine ich, dass sie ausschließlich der Chefetage vorbehalten sind. Die himmlischen Heerscharen, zu denen auch die Engel gehören, bewirken die guten Taten, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, eher indirekt.“
„Was soll denn das schon wieder heißen?“
„Das wirst du schon noch sehen“, erwidert Rafael. Er mustert plötzlich intensiv seine Fingernägel und setzt einen unschuldigen Gesichtsausdruck auf. „Was deinen angeblichen Geldmangel angeht … sind da nicht noch fünfzig Euro in einem Briefumschlag unter dem Hamsterkäfig?“
„Woher weißt du das?“ frage ich entgeistert und wehre dann empört ab. „Kommt überhaupt nicht in Frage! Das ist meine Notration! Mein Sparstrumpf für schlechte Zeiten!“ Das ist zwar nur eine billige Ausrede, denn mit so einem kleinen Sparstrumpf könnte ich mir maximal eine Übernachtung in einer heruntergekommenen Pension leisten, aber ich sehe einfach nicht ein, warum ich Rafael freie Hand geben soll, mein sauer verdientes Geld zu verjubeln.
„Ich nehme auch nicht das teuerste Frühstück!“ sagt Rafael beruhigend.
„Na schön“, gebe ich nach und knie mich auf den Boden, um das Geld, das Fridolin XIV. mit seinem kleinen Hamsterhintern bewacht, unter dem Käfig hervorzuziehen. „Aber ich entscheide, wo wir frühstücken!“
Rafael hebt abwehrend die Hände und nickt.
Zusammen gehen wir in die Küche, wo ich meinen Hausschlüssel vom Esstisch klaube. Lars sitzt immer noch auf seinem Platz und glotzt müde in seine Kaffeetasse.
„Was machst du noch hier?“ frage ich erstaunt, obwohl ich weiterhin sauer auf seine anzügliche Bemerkung von eben bin. Ich finde es schon schwierig genug, mit Lars normal zu reden. „Musst du heute nicht arbeiten?“
Lars schüttelt den Kopf. „Heute ist die Weihnachtsfeier der Abteilung. Ich hab mich krank gemeldet.“
„Warum? Weihnachtsfeiern können doch ganz nett sein.“
Lars verzieht sein Gesicht. „Aber nicht bei uns. Unser Chef hat das Ganze mit einem Betriebsausflug kombiniert. Ein Spaziergang durch das verschneite Moselgebiet und anschließend Rast auf einer unbeheizten, zugigen Festung, mit Ritterspielen und mittelalterlichem Festgelage. Du weißt schon … klampfende Minnesänger, die so tun, als wären sie direkte Nachkömmlinge von Walther von der Vogelweide, gebratene Wildschweinköpfe mit einem Apfel in der Schnauze und billiger Fusel, der als Met verkauft wird. Und hinterher hat man immer die Sekretärin des Chefs auf dem
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