Und dann der Himmel
Ohrenstäbchen. Ohne ins Detail gehen zu wollen: Es dauerte eine Weile, bis ich herausfand, dass man Ohrenstäbchen benutzt, um den Dreck aus den Ohren herauszuholen, und nicht, um ihn noch weiter hineinzuschieben. Und es dauerte noch eine Weile länger, bis mein Vater zu seinem maßlosen Erstaunen bemerkte, dass meine Schwerhörigkeit auf verstopfte Gehörgänge zurückzuführen war. Fakt war jedenfalls, dass ich einige Wochen lang grundsätzlich alles, was mündlich an mich herangetragen wurde, entweder gar nicht oder komplett falsch verstand. Dazu gehörten auch einige nicht ganz unwichtige Einzelheiten während besagter Morgenmesse.
Während wir Kinder zwischen meinen Eltern in der vordersten Kirchenbank saßen und ich mit den Füßen wippte, stand der Pfarrer vor dem Altar und hielt seine Predigt. Prinzipiell war ich ein aufmerksamer Zuhörer, denn ich ließ mir immer gerne Geschichten erzählen, und die Predigten von Pfarrer Seligmann erinnerten mich an die Märchen, die mir meine Eltern vor dem Schlafengehen vorlasen. Pfarrer Seligmanns Erzählungen besaßen zusätzlich den Vorteil, dass sie für mich völlig neu waren, da ich, wie schon erwähnt, eine Kirche bisher nur selten von innen gesehen hatte.
Diese Unerfahrenheit mit Religion begrenzte allerdings auch meine Fähigkeit, die Predigten des Pfarrers und die Themen, mit denen er sich befasste, in einen größeren Rahmen einzuordnen. Ich hatte den Eindruck, dass es meist um einen etwas absonderlichen Mann namens Jesus ging, in meiner kindlichen Vorstellung eine Art fahrender Schausteller oder Artist, der damit beschäftigt gewesen war, mit einer Gruppe von Fans und Gehilfen durch das Land zu ziehen und das Volk durch kleine Zaubertricks zu amüsieren. Da hatte es zum Beispiel eine Geschichte gegeben, in der er über Wasser gelaufen war, ohne unterzugehen, er hatte mit fünf Broten 5000 Leute satt bekommen, er hatte Lahme und Kranke geheilt und sogar einen Toten wieder zum Leben erweckt. Bei der letzten Geschichte hatten sich mir allerdings die Nackenhaare gesträubt, weil sich vor meinem inneren Auge eine halb verrottete Mumie aus dem Grab erhob und sich mit weit aufgerissenen Augen und ausgestreckten Armen auf mich zubewegte.
An jenem Sonntag allerdings schien unser Pfarrer endgültig jeden Bezug zur Wirklichkeit verloren zu haben. Bevor er den Bogen zur osterüblichen Wiederauferstehungsgeschichte bekam, erzählte Seligmann etwas von Israeliten – was um alles in der Welt waren Israeliten? –, die sich merkwürdigerweise eine Hose zum Anführer auserkoren hatten und mit ihr durch die Wüste zogen, bis sie von einem brennenden Busch angesprochen wurden. Etwas so Absurdes wurde einem noch nicht einmal in den Kindersendungen im Fernsehen serviert. Unruhig rutschte ich auf der harten Kirchenbank hin und her und pulte ein bisschen in meinem angestauten Ohrenschmalz. Dann stieß ich meinen Vater mit dem Ellenbogen an.
„Was denn für eine Hose?“ zischte ich ihm zu.
Mein Vater seufzte, kratzte sich mit einer resignierten Handbewegung am Kopf, warf mir einen seiner Dieses-Kind-macht-mich-noch-wahnsinnig-Blicke zu und zischte zurück: „Mose! Nicht Hose! Der Anführer der Israeliten hieß Mose!“ Ich zog diesem Mose in Gedanken meine Hose an und gab dadurch der Geschichte marginal etwas mehr Sinn. Trotzdem passte das alles irgendwie nicht zusammen.
„Und warum redet er mit einem brennenden Busch? Ist er verrückt?“ fragte ich nach.
„Der Busch ist Schrott“, hörte ich meinen Vater antworten.
„Sag ich doch“, flüsterte ich empört, aber gleichzeitig zufrieden, dass ein Erwachsener meine Beurteilung der Predigt unseres Pfarrers teilte. „Die ganze Geschichte ist Schrott.“
„Nicht Schrott!“ brüllte mein Vater entnervt über seinen schwerhörigen Sohn. „ Gott ! Der Busch ist Gott!“ Leider fiel ihm erst in diesem Moment auf, dass er ziemlich laut geworden, Pfarrer Seligmann durch unsere Auseinandersetzung aus dem Konzept gekommen und verstummt war, und der Rest der Gemeinde unsere Unterhaltung mit hochgezogenen Augenbrauen verfolgte. Hilflos suchte mein Vater den Blickkontakt zu meiner Mutter, aber sie war damit beschäftigt, ihr Feixen und ihre zuckenden Mundwinkel hinter der vorgehaltenen Hand zu verstecken.
Pfarrer Seligmann räusperte sich. „Darf ich jetzt weitermachen?“ fragte er schließlich mit angekratzter Würde und wartete, bis mein Vater verlegen und mit rotem Kopf nickte. „Danke.“
Ich beschloss, besser keine
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