Und dann der Himmel
Er wirkt hilflos, wie ein großes, kleines Kind.
„Halt still“, sage ich versöhnlich und ziehe ihm mühsam die Schuhe und die Strümpfe aus. Er hat makellose, schöne Füße, schneeweiß mit samtiger, glatter Haut – fast wie gemalt. Auf den großen Zehen sprießt weicher, dunkler Flaum und seine Zehennägel sind perfekt geformte Halbmonde. Ich halte seinen rechten Fuß in meiner Hand und lasse wie in Trance meine Handfläche über seine Fußsohle fahren. Rafael zuckt zusammen und kichert.
„Vorsicht, ich bin kitzelig“, sagt er.
Ich seufze und will ihm helfen, die Jeans auszuziehen, aber als ich die Hosenknöpfe öffne, merke ich, dass Rafael nicht so müde ist, wie ich dachte. Teile von ihm sind wach, hellwach. Meine Finger fangen an zu zittern und fühlen sich auf einmal ganz klamm an. Ich würde so gerne, aber mein Verstand sagt mir, dass ich nicht blöde sein soll. Von solchen Sachen sollte man besser nicht mal träumen, da ist der Ärger schon vorprogrammiert. Doch dann zieht mich Rafael plötzlich zu sich aufs Bett, und als seine Bartstoppeln meine Lippen berühren, ist mir erst einmal alles egal.
Er küsst wie ein Engel, denke ich noch, und dann, bevor ich mich endgültig fallen lasse: Na ja, kein Wunder, er ist ja auch einer, oder?
Einige Stunden später bin ich noch immer wach und wieder beobachte ich Rafael beim Schlafen. Es scheint mir fast, als hätte ich einen erheblichen Teil der letzten zwei Tage damit zugebracht, ihn möglichst unbemerkt zu betrachten. Ich kann mich an ihm einfach nicht satt sehen. Nur diesmal muss ich nicht heimlich nach nebenan schleichen, jetzt liegt Rafael neben mir.
Je tiefer er schläft, desto mehr breitet er sich auf meinem Bett aus, als wollte er unbewusst Besitzansprüche demonstrieren, als wollte er mir sagen, dass sein Platz nun an meiner Seite ist. Anfangs hat er sich auf seine Hälfte der Matratze beschränkt, aber nun liegt er fast quer im Bett, sein Kopf auf meinem Kissen, sein rechter Arm in einer vereinnahmenden Geste weit ausgebreitet. Mir bleibt nur die rechte, untere Ecke im Bett, aber trotz der Enge fühle ich mich wohl.
Rafael verwirrt mich. Alles an ihm ist widersprüchlich. Mal ist er naiv und albern, mal ernst und traurig, dann wieder komisch und tollpatschig. Er redet gerne in Plattitüden und gibt altkluges Gewäsch von sich, aber einige Dinge, die er sagt, haben einen ernsten Kern und bringen mich zum Nachdenken. Meist hat er ein grenzenloses Mitteilungsbedürfnis und eine Distanzlosigkeit, die mich auf die Palme bringen, und dann wieder kommt er mir sehr zurückgezogen und unnahbar vor. Ein Mann, um den ich sonst einen großen Bogen machen würde.
All das verunsichert mich, aber jetzt, wo er in meinem Bett liegt, kann ich merkwürdigerweise nicht aufhören zu lächeln. Ich ertappe mich bei der Überlegung, ob er vielleicht der Richtige ist, baue Luftschlösser für uns beide und vergesse dabei, dass er doch ein Engel ist, der mir nur für einen begrenzten Zeitraum zur Seite stehen wird. Ich glaube, ich bin dabei, mich zu verlieben. Rafael passt so viel besser zu mir als Finn. Bei Rafael fühle ich mich sicher, auch wenn das Leben mit ihm unvorhersehbar zu sein scheint. Er würde mich niemals hintergehen.
Mit seiner Handfläche reibt Finn über die beschlagene Fensterscheibe in der Küche und sieht nach draußen. In der Nacht hat es sich aufgeklärt. Die Wolken, die noch vor wenigen Stunden aus dem Rheinland kommend den Himmel verdüstert und mit Regen gedroht hatten, haben sich aufgelöst und einer glitzernden Sonnenscheibe Platz gemacht. Aber die Jahreszeit fordert ihren Tribut und die Kälte weicht nicht zurück. Die Schneereste auf der Fensterbank und um den Strommast hinter dem Grundstückszaun verwandeln sich zusehends in hart gefrorenes Eis.
Finn hat gerade sein Mittagessen beendet und stapelt den leer gegessenen Teller auf den Berg von Abwasch, der langsam anfängt, unangenehm zu riechen. Die angebrochene Dose Ravioli war das letzte Essbare, das er hatte. Jetzt ist der Kühlschrank leer, abgesehen von zwei Flaschen Mineralwasser, einem Glas Spreewaldgurken und vier Scheiben grün angelaufener Fleischwurst.
Finn versucht, ein Aufstoßen zu unterdrücken. Die Nudeln liegen wie ein Stein in seinem Magen und er spielt mit dem Gedanken, sich ein oder zwei Schnäpse zu genehmigen. Irgendwo hat er noch eine Flasche Jägermeister. Aber erstens ist es noch zu früh am Tag für Alkohol, und zweitens braucht er einen klaren Kopf.
Er zündet
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