Und dann der Himmel
„Mir ist schlecht“, sagt er mit geschlossenen Augen.
„Wundert mich nicht“, antworte ich, „du hast zu viel getrunken.“
„Ich glaube, ich vertrage nichts. Da, wo ich herkomme, gibt’s keinen Alkohol.“
„Ach“, sage ich erstaunt, „und was ist mit den Drinks, die du hin und wieder mit Beelzebub hinter die Binde kippst?“ Der Taxifahrer wirft einen misstrauischen Blick in den Rückspiegel.
Rafael schüttelt mühsam den Kopf. „War gelogen“, bringt er dann heraus. „Oder besser gesagt, ein wenig ausgeschmückt. Engel können ja nicht lügen.“
Ich überlege, welche Implikationen dieses Geständnis für den Rest seiner Geschichte hat. „Und alles andere?“ frage ich. „War das auch ausgeschmückt? Die Sache mit Jesus und Judas, deine Verbannung, dein Auftrag, mein Leben ändern zu müssen? Hast du mich die ganze Zeit zum Narren gehalten?“
Rafael stöhnt und hält sich den Kopf. „Nein, Marco. Es ist alles wahr. Wie oft soll ich es denn noch wiederholen? Vielleicht habe ich manches ein wenig vereinfacht, aber einem Sterblichen die himmlische Herrlichkeit nahe zu bringen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Und jetzt lass mich in Ruhe, ich will schlafen!“ Rafaels Kopf fällt nach hinten und innerhalb weniger Sekunden dröhnt das geräuschvolle Schnarchen durch das Auto, das mich schon in der ersten Nacht vom Einschlafen abgehalten hat.
Obwohl es erst Nachmittag ist, bin ich völlig fertig. Die Ereignisse der letzten Tage verdichten sich zu einer einzigen, großen Reizüberflutung und lassen mich etwas atemlos zurück. Müde und angestrengt starre ich aus dem Fenster und betrachte die blinkenden, weihnachtlich dekorierten Schaufenster. Aber ich kann nicht abschalten, denn trotz oder gerade wegen meiner Erschöpfung bin ich auch aufgeregt. Der absurde Gedanke, den Alltag eine Zeit lang hinter mir zu lassen, lässt mich plötzlich nicht mehr los. Rafaels Auftauchen hat schon jetzt mein Leben verändert – auch wenn ich noch nicht begriffen habe, in welcher Form – und wahrscheinlich ist es sinnlos, sich gegen diese Veränderung zu wehren. Viel einfacher wäre es wahrscheinlich, mich treiben zu lassen, mit dem Strom zu schwimmen und meinen Widerstand aufzugeben. Denn was immer er auch vorhaben mag – Rafael wird nicht lockerlassen, das weiß ich inzwischen.
Natürlich bin ich ängstlich, aber ich spüre auch deutlich eine unerwartete, erstaunliche Neugier auf das, was auf mich zukommt – fast so wie das Gefühl, das mich unausweichlich immer dann überfällt, wenn ich mit einem Flugzeug geflogen bin: Jedes Mal, wenn ich vor dem Rollband der Gepäckabholung stehe – meist in der verzweifelten Hoffnung, dass mein Koffer nicht auf mysteriöse Weise nach Reykjavik, Honolulu oder Dubai umgeleitet worden ist und meine schmutzige Unterwäsche von genervtem Servicepersonal kritisch unter die Lupe genommen wird –, habe ich den fast unwiderstehlichen Drang, mich auf das ratternde Fließband zu werfen und den Menschen, die mit mir warten, huldvoll lächelnd zuzuwinken, während ich langsam an ihnen vorbeigerollt werde und endlich, endlich erfahre, was sich hinter den schweren, schwarzen Gummilamellen befindet, die sich wie ein zerrissener Vorhang lüften, wenn sie ihre Fracht freigeben.
Das Taxi hält, ich zahle und wecke den schlaftrunkenen Rafael. „Wir sind da“, sage ich. „Wach auf!“
„Gepriesen sei Gott in der Höhe“, nuschelt er.
Der Weg die Treppen hinauf ist Schwerstarbeit. Rafael hängt wie ein nasser Sack auf meinen Schultern. Zu jedem Schritt muss er sich von mir überreden lassen. Immer wieder fallen ihm die Augen zu und er murmelt lateinische Wortfetzen. Als wir endlich oben sind, rinnt mir der Schweiß über den Nacken und ich habe Pudding in den Beinen.
Adolf begrüßt unsere Ankunft schwanzwedelnd und winselnd, aber als ich streng „Platz!“ sage, gehorcht er aufs Wort. Vor Schreck lasse ich Rafael fast fallen. Mir war gar nicht klar, wie viel Autorität ich ausstrahle.
Ich will Rafael auf sein Feldbett verfrachten, aber ich habe nicht genug Hände, um die Tür zu seinem Zimmer zu öffnen und ihn gleichzeitig festzuhalten. Also lade ich ihn notgedrungen auf meinem Bett ab, wo er sich sofort dankbar ausstreckt und den Kopf im Kissen vergräbt. Fridolin XIV. kriecht aus der Kapuze der Jacke und macht sich unter dem Schreibtisch über die Elektrokabel meines Computers her.
„So müde …“, brummt Rafael und sucht zwischen den Laken die bequemste Schlafposition.
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