Und dann der Himmel
linke Schulter. Ungeschickt tasten seine Finger die beiden Stellen ab. Dann seufzt er und blickt mich traurig an.
„Bist du krank?“ frage ich. „Sollen wir zum Arzt gehen?“ Verlustängste rollen auf mich zu wie die Flutwellen eines Tsunami. Ich stelle mir immer gleich das Schlimmste, das Unaussprechliche vor.
Rafael schüttelt den Kopf. „Kein Grund zur Sorge“, antwortet er leise, „mir fehlt nichts. Es ist nur ein Zeichen, dass meine Zeit abzulaufen beginnt.“
„Abzulaufen beginnt? Was meinst du damit?“ frage ich.
Rafael räuspert sich verlegen. „Ich … äh … ich habe dir, als wir uns begegnet sind, nicht alles gesagt“, erklärt er vorsichtig. „Erinnerst du dich? Du hast dich lustig darüber gemacht, dass ich als Engel keine Flügel besitze …“
„Ja, und?“
Rafael deutet auf seinen Rücken. „Das da sind sie. Sie beginnen nachzuwachsen. Schon morgen wirst du die ersten Federn sehen können, und in ein paar Tagen sind sie so wie immer: zwei Meter lang, buschig und blendend weiß, fast silbern.“
Ich bin so überrascht, dass ich kein Wort herausbringe. „Und was passiert dann?“ frage ich schließlich, obwohl ich die Antwort ahne.
„Dann werde ich dich wieder verlassen müssen.“
Ich starre ihn an und ringe nach Worten. „Aber … aber … ich habe mich in dich verliebt!“ platzt es aus mir heraus. „Du kannst nicht einfach wieder gehen!“
Rafael schüttelt den Kopf. „Marco …“, beginnt er, aber ich schreie „Nein!“ und fege mit einer ohnmächtigen Handbewegung alle Zettel und Zeitschriften vom Schreibtisch. Ich will nichts hören. Wie kann er von mir erwarten, dass ich seine Erklärung so einfach hinnehme, mich in das Schicksal füge und ihn wieder gehen lasse? Gott oder wer auch immer da oben sitzt, ist mir was schuldig!
Rafael packt mich an beiden Schultern und sieht mir eindringlich in die Augen. „Marco“, sagt er noch einmal, „hör mir zu: Du bist nicht in mich verliebt, das bildest du dir nur ein!“
„Das kannst du gar nicht beurteilen!“ erwidere ich aufgebracht, „du kannst schließlich nicht in mich hineinsehen!“ Rafael grinst verstohlen und ich setze unsicher hinzu: „Oder doch?“
Rafael sucht auf dem Boden nach seinen Klamotten, die er vor nur wenigen Stunden gar nicht schnell genug ausziehen konnte. Ich sehe ihm schweigend zu. Jedes Stückchen seines Körpers versuche ich mir einzuprägen, jede Muskelbewegung, jedes Haar unterhalb seines Bauchnabels, aus Furcht, ihn vielleicht nie wieder nackt zu sehen.
„Ein paar Tage?“ sage ich schließlich.
Rafael nickt. „Von den sechs Tagen sind zwei abgelaufen. Es bleiben noch vier übrig.“
„Aber was ist mit deinem Auftrag? Du hast gesagt, du bist hier, weil du mein Leben neu ordnen sollst und mir einen Mann besorgen musst, der zu mir passt.“
„Das habe ich auch vor.“
„Und wenn ich überhaupt keinen anderen Mann haben will? Wenn ich lieber dich hätte?“
„Glaub mir, Marco“, sagt Rafael zuversichtlich, „du wirst wollen.“
„Das werden wir ja sehen!“ erwidere ich kampfeslustig. „Du kannst mich nicht zwingen.“
„Nein“, stimmt Rafael zu, „zwingen kann ich dich nicht. Aber ich kann dich dazu bringen, zu erkennen, was das Beste für dich ist.“
„Und wie willst du das anstellen?“
„Dafür fahren wir zusammen in Urlaub“, sagt Rafael.
„Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?“ erwidere ich aufgebracht. Manchmal spricht Rafael in Rätseln. Es muss ein Überbleibsel aus alttestamentarischer Zeit sein. Da haben die Leute auch nur die Hälfte von dem verstanden, was ihnen verkündet wurde.
Rafael unterbricht seine Bemühungen, seine Sachen anzuziehen; bisher hat er sowieso nur den linken Strumpf gefunden. Stattdessen verschränkt er die Arme hinter dem Kopf und lässt sich zurück aufs Bett fallen. „Es wird eine ganz besondere Reise“, schmunzelt er und ich bekomme auf einmal ein ganz flaues Gefühl in der Magengegend. Die Sache hört sich an, als hätte sie einen riesigen Haken. „Wir reisen zurück in deine Vergangenheit, bildlich gesprochen.“ Jetzt bin ich genauso schlau wie vorher, aber das Wort „Vergangenheit“ gefällt mir überhaupt nicht. Es klingt verdächtig nach Konfrontation mit Dingen, mit denen ich nichts zu tun haben möchte.
„Jetzt hör schon auf, mich auf die Folter zu spannen“, sage ich, aber Rafael schüttelt den Kopf.
„Lass dich überraschen“, schlägt er augenzwinkernd vor. „Schieb deine Ängste vor dem
Weitere Kostenlose Bücher