Und dann der Himmel
ins Ohr. „Vielleicht hat Rafael Recht. Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, ein paar Tage Ferien zu machen. Ein bisschen Abstand und eine kleine Abwechslung würden dir sicherlich gut tun. Du kämst auf andere Gedanken.“
„Das ist eine bescheuerte Idee“, erwidere ich. „Ich soll also mein letztes Geld verprassen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie ich in den nächsten Monaten meinen Teil der Miete bezahlen soll?“
Anja seufzt. „Irgendetwas findet sich immer“, sagt sie leichthin. „Außerdem ist es gerade kurz vor Weihnachten ziemlich unsinnig, auf Jobsuche zu gehen. Im Moment findest du sicherlich nichts Passendes. Warum also nutzt du die Zeit bis nach den Feiertagen nicht für etwas, was dir gut tun könnte?“
„So!“ antworte ich und stelle erstaunt fest, dass mein Glühwein schon alle ist. „Und darunter verstehst du eine Reise mit Rafael und Adolf? Du hast einen merkwürdigen Humor! Schau dir meinen Engel doch an: Er hat einen Hamster auf dem Kopf!“
„Schön“, gibt Anja zu, „ich würde mir vielleicht ein paar konventionellere Reisebegleiter aussuchen, aber mit den beiden wegzufahren ist immer noch besser, als mit ihnen in der Bude zu hocken und Trübsal zu blasen.“
An Anjas Einwand ist etwas dran. Die Vorstellung, die Feiertage in einer leeren Wohnung zu verbringen, stimmt mich nicht gerade glücklich. Lars drängelt sich zwischen uns, sammelt die leeren Becher ein und versorgt uns kurz darauf mit einer zweiten Runde Glühwein. Gleich bin ich betrunken.
„Und wo soll die Reise deiner Meinung nach hingehen?“ frage ich schließlich. „Selbst mit tausend Euro kann man zu dritt keine großen Sprünge machen.“
„Wie wäre es mit Wandern im Thüringer Wald?“ schlägt Anja vor.
„Im Winter?“ gebe ich entsetzt zurück. Meine Fantasien von Sonne, Strand und einer Hängematte zwischen zwei Palmen zerplatzen wie ein zerstochener Luftballon. „Was für ein dämlicher Einfall!“
„Wie du schon sagst“, erwidert Anja achselzuckend, „mit tausend Mäusen ist die Auswahl an Reisezielen etwas begrenzt. Abgesehen davon geht es doch gar nicht so sehr darum, wohin du fährst, sondern dass du überhaupt wegfährst! Und Deutschland im Winter hat bestimmt einige Vorzüge zu bieten: die gute Luft, romantische Eiszapfen an den Bäumen, lange Spaziergänge durch verschneite Landschaften, die gute Luft, preiswerte Unterkünfte, gemütliche Abende am prasselnden Kaminfeuer eines hübsch restaurierten Fachwerkhauses, die gute Luft …“ Sie hört sich an wie ein sprechendes Reiseprospekt der Vereinigung deutscher Luftkurorte. Ich sehe Anja mit hochgezogenen Augenbrauen an und sage kein Wort.
„Ich finde auch, dass du dir Rafaels Vorschlag überlegen solltest“, erklärt Lars plötzlich.
„Dich hat niemand gefragt“, antworte ich unwirsch. Wieso fühle ich mich so in die Ecke gedrängt? „Außerdem schafft mein Wagen eine solche Strecke bestimmt nicht. Ich traue Rafaels ‚Reparaturen‘ nicht so richtig.“
„Warum nehmt ihr nicht mein Auto?“ schlägt Lars vor.
„Deins? Du willst mir dein Auto leihen?“ frage ich misstrauisch. „Ich denke, das ist erst im Frühjahr wieder fahrtüchtig!“
Lars hat vor einigen Monaten bei eBay einen altersschwachen, rostigen Minibus ersteigert, an dem laut seiner Aussagen „nur ein bisschen was getan werden muss und dann ist er so gut wie neu.“ Seitdem blockiert das Vehikel im Hinterhof die Mülltonnen und Lars montiert in seiner Freizeit Autoteile an und ab und versucht uns weiszumachen, dass an ihm ein Kfz-Mechaniker verloren gegangen sei.
„Letzte Woche habe ich einen neuen Vergaser eingebaut. Jetzt fährt das Schätzchen wieder wie eine Eins!“ sagt Lars stolz. „Ihr hättet auch viel mehr Platz als in deiner Karre. Mit den eingebauten Rückbänken könnten locker sechs Personen mitfahren!“
„Und wie kommst du zu deinem Bruder?“
„Ich wollte sowieso mit dem Zug fahren“, sagt Lars.
Lars’ Großzügigkeit macht mich ganz perplex. Wahrscheinlich spricht aus ihm das schlechte Gewissen. Immerhin hat er mir gegenüber einiges gutzumachen.
„Ist doch eine super Idee!“ erklärt Anja begeistert, verstummt aber sofort, als sie meinen Blick sieht. „Am besten besprichst du das mit Rafael“, gibt sie entmutigt auf.
„Apropos …“, murmele ich und drehe mich um. Aber der Engel ist nirgendwo zu finden.
„Wo ist Rafael?“ frage ich Patrick, der mittlerweile schon beim dritten Glühwein angelangt ist
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