Und dann der Himmel
und glasige Augen hat.
Patrick brummt etwas Unverständliches und stiert mit einem aufdringlichen Grinsen eine Blondine am Stehtisch neben uns an. Dann deutet er vage auf eine Bude mit Weihnachtsplätzchen ein paar Meter entfernt. „Ich glaube, er hat einen Bekannten getroffen und wollte kurz ‚Hallo‘ sagen.“
„Einen Bekannten? Rafael hat hier keine Bekannten, außer vielleicht den Kardinal! Und der treibt sich bestimmt nicht auf dem Weihnachtsmarkt herum.“
Beunruhigt betrachte ich die Leute vor einem Stand mit Gebäck und entdecke Rafael schließlich Arm in Arm mit einem Mann, der einen wallenden roten Rock, eine rote Zipfelmütze und einen weißen Wattebart trägt. Die beiden sind augenscheinlich in ein wichtiges Gespräch vertieft. Rafael steht etwas unsicher auf den Beinen und wird von dem anderen gestützt. „O nein“, sage ich ahnungsvoll, „er verbrüdert sich gerade mit dem Nikolaus!“
Rafael hebt seinen Kopf, sieht zu mir herüber und winkt mich freudestrahlend heran. „Marco!“ brüllt er mit schwerem Zungenschlag, „schau mal, wen ich gefunden habe!“ Mit Anja, Lars und Patrick im Schlepptau laufe ich zu den beiden herüber, in der Hoffnung, einen Eklat verhindern zu können. Rafael ist voll wie eine Haubitze.
„Wie viele Becher Glühwein hast du intus?“ fahre ich ihn an.
„Köstliches Getränk“, erklärt er überschwänglich und ignoriert meine Frage, „kann ich noch ’ne Runde haben, für mich und meinen Freund hier?“ Er klopft dem rotgewandeten Mann auf die Schulter. „Das hier“, fügt er dann hinzu, „ist übrigens ein Kollege von mir: der heilige Nikolaus! Wir heben gerade einen zusammen – auf die alten Zeiten!“ Lars und Patrick fangen schon wieder an zu lachen. Für sie scheint das alles sehr komisch zu sein. „Hört auf damit!“ sage ich. „Helft mir lieber, die beiden zu trennen!“
Zumindest Patrick unternimmt einen, wenn auch etwas hilflosen Versuch, mir zur Seite zu stehen. „Das ist nicht der heilige Nikolaus“, sagt er zögernd und etwas belehrend zu Rafael, „das ist mit Sicherheit ein verkleideter Student oder Rentner! Du weißt schon, der Brauch mit dem Gedicht aufsagen und der Rute.“
Aber Rafael ist jenseits von gut und böse und vernünftigen Argumenten gar nicht mehr zugänglich. Wahrscheinlich ist sein himmlischer Metabolismus überhaupt nicht in der Lage, irdischen Alkohol zu verkraften. „Student? Quatsch!“ lallt er und wischt Patricks Erklärung mit einer fahrigen Geste beiseite. „Das – das hier is Niki. Ich werd doch meim alten Kumpel Niki wiedererkennen.“ Er beugt sich unsicher zu mir herüber und flüstert mir grinsend ins Ohr: „Kann man nie verfehlen, den Kerl – hat immer rot an, schon seit Jahrhunderten – und er riecht bisschen streng nach Rentier …“
Verärgert sehe ich Rafaels neuen Freund an. „Sagen Sie ihm, wer Sie sind“, fordere ich ihn auf, um die Scharade zu beenden.
Der Mann rückt umständlich seinen falschen Bart zurecht, reicht mir die Hand und stößt dann verwaschen hervor: „Heiliger Nikelaus, Pisch… Bischof von Myra! Warste auch brav, mein Sohn?“ Er kramt einen kleinen Reisigbesen aus dem Kartoffelsack, den er in seinen Gürtel gesteckt hat, und fuchtelt mir damit drohend vor dem Gesicht herum.
Super! denke ich. Noch ein Irrer!
„Siehst du“, schreit Rafael triumphierend, als ob der mickrige Ast einen Beweis darstellen würde, „er hat sogar seine Rute dabei! Is ja doch der Nikilaus …“
„Ist er nicht!“ sage ich scharf und zerre Rafael aus der Umarmung des roten Mannes. „Aber du bist völlig blau und gehörst ins Bett, um deinen Rausch auszuschlafen!“
„Niki! Lass mich nicht alleine!“ ruft Rafael weinerlich und dreht sich sehnsüchtig nach seinem Saufkumpanen um, während ich und Lars ihn Richtung Taxistand schleifen. „Sag den anderen, dass ich sie vermisse – und bestell dem Allmächtigen, dass ich was guthabe, wenn ich hier fertig bin – ist sehr anstrengend …“ Der falsche Nikolaus winkt uns zum Abschied mit seiner Rute nach.
Anstrengend? denke ich empört. Was ist an mir denn anstrengend? Wenn hier jemand Grund zum Klagen hat, dann bin doch wohl ich das! Trotzdem registriere ich auch beunruhigt, wie groß Rafaels Heimweh zu sein scheint.
Zusammen bugsieren Lars und ich Rafael ins Taxi. Lars kehrt zum Glühweinstand zurück und ich leiste Rafael auf dem Rücksitz Gesellschaft.
Der Engel hängt im Sicherheitsgurt wie ein verwelktes Bund Petersilie.
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