Und dann der Himmel
Wange hat er schon einmal gesehen, aber er kann sich nicht erinnern.
„Was?“ fragt er verwirrt. „Wer bist du? Wie bist du hierher gekommen?“
„Ein Schutzengel. Geflogen“, bekommt er kurz und bündig zur Antwort.
„Klar“, sagt Finn sarkastisch. „Und was willst du?“
„Helfen.“
Finn lacht bitter auf. „Mir kann nicht mehr geholfen werden. Er ist weg. Ich hab’s vermasselt.“
„Immer wenn du glaubst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“, rezitiert der Mann freudestrahlend und sieht ihn so erwartungsvoll an, als hätte er ihm mit dieser Binsenweisheit gerade alle Geheimnisse des Universums erklärt.
Finn weiß nicht, ob er weinen oder lachen soll. Wieso unterhält er sich überhaupt mit diesem Idioten?
„Es ist noch nicht vorbei“, fügt der angebliche Schutzengel hinzu. „Es fängt gerade erst an. Wenn er dich vergessen hätte, würdest du nicht hier stehen und überlegen, wie du mich am schnellsten loswirst, damit du deinen Plan ausführen kannst. Dies ist sein Traum, er träumt von dir. Du bist also noch immer in seinen Gedanken. Zeig ihm, dass du nicht aufgibst.“
„Das hier soll ein Traum sein?“ fragt Finn. Aus welcher Anstalt ist der Typ bloß ausgebrochen?
Er lässt den Mann stehen und geht zurück ins Haus. Er hat jetzt keine Zeit für solche Ablenkungsmanöver. Aber in der Tür dreht er sich um und ruft: „Wenn ihm wirklich noch etwas an mir liegt und er von mir träumt, wie kommt es, dass er so hasserfüllt ist?“ Aber der Fremde ist nicht mehr da.
Finn schüttelt den Kopf und schließt die Eingangstür hinter sich. Vielleicht hat er eine Art Black-out gehabt? Aber es fühlte sich alles so realistisch an! Vorsichtshalber dreht er den Schlüssel im Schloss herum. Man weiß nie. Dann läuft er die Treppe hinunter in den Keller und nimmt das Jagdgewehr von der Wand. Der Lauf ist zu lang, um wirklich handlich damit umzugehen. Finn setzt sich auf eine Holzkiste, in der er Werkzeug lagert, und klemmt die Waffe zwischen seine Knie. Er braucht ein paar Sekunden, bis er die richtige Position gefunden hat und sein Daumen den Abzug greift. Einen Moment lang zieht Finn in Erwägung, dass der Mann die Wahrheit gesagt hat, betrachtet die Möglichkeit, dass Marco trotz allem noch immer an ihm hängt, und lächelt. Dann schiebt er die Illusion energisch beiseite, steckt den Lauf des Gewehrs in den Mund und drückt ab.
Rafael hat es schon wieder gemacht. Er hat sich eingemischt. Ich schwanke zwischen Wut über die Verletzung meiner Privatsphäre und Verwunderung, wie sehr Rafael auf mein Unterbewusstsein einwirkt. Sein Einfluss wird immer stärker, dabei ist er noch nicht einmal wach. Fast wäre es ihm gelungen, meinen Traum zum Guten zu wenden. Wie kann er glauben, dass mir an Finn noch etwas liegt, wenn ich doch jetzt einen anderen habe: einen Engel? Meine Fantasien sind nur Ausdruck der Verarbeitung einer gescheiterten Freundschaft.
Finn interessiert mich nicht mehr, denke ich und ignoriere störrisch das leise Lachen, das ich in meinem Hinterkopf höre.
Rafael dreht sich im Schlaf auf den Bauch und ich streiche sanft über seine Haare, fahre mit meinen Fingern über das ungewohnte Relief seines Rückens. Er schlägt kurz die Augen auf, brabbelt etwas Unverständliches und schläft weiter. Er schnarcht leise, es klingt wie das Rauschen des Fernsehers, wenn der Sender ausfällt, und zum ersten Mal stört es mich nicht, im Gegenteil, auf einmal fühle ich mich geborgen durch das Geräusch, das mich letzte Nacht noch wahnsinnig gemacht hat. Fast unmerklich hat sich mein innerer Kompass auf Beziehung eingestellt, ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können.
Gedankenverloren streiche ich weiter über die Haut des Mannes neben mir im Bett. Unterhalb von Rafaels Schulterblättern gleiten meine Hände plötzlich über zwei rötliche, kreisrunde, geldstückgroße Punkte. Unter seiner Haut fühlen sie sich etwas erhaben an, wie Knorpel. Erschrocken halte ich inne. Ich bin mir sicher, dass diese … Flecken gestern noch nicht da waren.
„Rafael“, frage ich laut, „was ist das?“
„Was ist was?“ murmelt er schlaftrunken und will mich erneut in eine Umarmung ziehen, aber ich weiche aus und springe aus dem Bett.
„Das da!“ sage ich und in meiner Stimme schwingt Angst mit. „Diese Dinger auf deinem Rücken!“
Rafael setzt sich gähnend auf und reibt sich die Augen. Dann steht er auf, stellt sich mit dem Rücken vor den Spiegel und linst über die
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