Und dann der Himmel
idealistisch, wenn man sich weigert, etwas anderes als Fallobst zu essen? Es ist doch wohl eher verschroben! Im Übrigen kannst du es dir sparen, mir Heinrich Heine um die Ohren zu hauen. Du weißt genauso gut wie ich, dass dieser Satz ironisch gemeint war!“
„Dass mit dem heruntergefallenen Obst sind Frutarier, du Idiot!“ knurrt meine Mutter. „Mit denen habe ich nichts zu tun. Und mit jemandem, der jeden Samstagnachmittag die Dachrinne mit dem Staubsauger säubert, diskutiere ich nicht über Sinn und Zweck von alternativen Lebensstilen.“
Mein Vater schnaubt wütend auf. „Das stimmt überhaupt nicht!“ leugnet er.
„Samstag vor zwei Wochen hast du den Staubsauger auf den Speicher geschleppt, hast dich mit der schmalen Düse aus dem Fenster gelehnt und die Dachrinne gesaugt. Ich habe es genau gesehen, als ich vom Frisör kam!“ sagt meine Mutter triumphierend. „Was ist wohl als nächstes dran? Wirst du anfangen, die Dachziegel einzeln abzuwaschen oder Strümpfe und Unterwäsche zu bügeln?“
„Das tue ich schon seit Jahren“, erwidert mein Vater pikiert. „Schließlich liegen die Sachen doch gleich ganz anders im Schrank, wenn sie gebügelt sind. Und abgesehen davon, irgendwer muss sich ja um den Haushalt kümmern! Du putzt doch erst, wenn selbst die Staubmilben im Teppich gegen den Dreck protestieren! Im Übrigen spart es uns eine Menge Geld, wenn ich hin und wieder nach der Regenrinne sehe. Als das Ding vor zwei Jahren verstopft war, hatten wir einen ziemlich teuren Wasserschaden, aber das hast du ja anscheinend schon wieder verdrängt.“
„Ich weiß ganz genau, was uns dieses verdammte Haus und der verdammte Weinberg kosten und was sie uns einbringen!“ erregt sich meine Mutter. „Ich führe nämlich die Bücher!“
„Wieso verdammt?“ brüllt jetzt mein Vater. „Du wolltest dieses Leben damals genauso wie ich. Es war unsere gemeinsame Entscheidung! Jetzt tu nicht so, als ob du es alles nur mir zuliebe ertragen hättest!“
Dann ist es plötzlich still in der Küche. Fast scheint es, als hätten meine Eltern einen Waffenstillstand erreicht, nachdem sie ihrem Ärger Luft gemacht haben. Ich stelle mir vor, wie sie sich ansehen und wie so viele Male zuvor erneut entdecken, dass sie den anderen trotz aller Unterschiede nicht missen möchten, und schüttele den Kopf wie ein Kind, dem die Schrulligkeiten seiner in die Jahre kommenden Eltern auf die Nerven fallen. Doch ich habe mich getäuscht. Dieses Mal scheinen meine Eltern an einem Punkt angelangt zu sein, an dem sie ihre Meinungsverschiedenheiten nicht mehr zukleistern können, denn plötzlich höre ich wieder die Stimme meiner Mutter, aber nun klingt sie nicht mehr aufgebracht und wütend, sondern enttäuscht und ratlos.
„Du hast dich verändert, Leo“, sagt sie. „Du bist alt geworden, alt, bequem und angepasst. Ein Löwe, der nicht mehr brüllt, sondern nur noch dösend im Schatten liegt. Ich weiß nicht, ob ich mit dieser Veränderung leben will.“
Mein Vater seufzt. „Wir sind beide alt geworden, Anna. Nur willst du dieser Tatsache nicht ins Auge sehen. Irgendwann muss man auch seinen Frieden mit dieser Welt schließen. Schau doch, was wir aus unserem Leben gemacht haben: Wir haben zwei Kinder groß gezogen, wir haben ein Heim und unser Auskommen und wir sind gesund. Wir haben sogar Enkel! Ist das nicht genug? Kannst du dich nicht einfach zurücklehnen und die Verbesserung der Welt den Jüngeren überlassen?“
Ich höre meine Mutter leise lachen, aber ihr Lachen klingt nicht fröhlich. „Und was sollen wir für den Rest unseres Lebens tun?“ fragt sie. „Im Schaukelstuhl den Weintrauben beim Schrumpeln zusehen, bis uns die Arthrose in die Knochen kriecht? Das ist mir zu wenig.“
„Ich mag Schaukelstühle“, beharrt mein Vater. „Diese kleine Welt hier macht mich glücklich. Sie mag nicht perfekt sein, sie mag ein bisschen spießig und kleinkariert sein, aber ich kann mich mit ihren Fehlern arrangieren. Ich will sie nicht verändern.“
„Du willst nur deine Ruhe“, erwidert meine Mutter, und mit dieser Einschätzung wirft sie alles über den Haufen.
Einige Stunden später kommt aus dem Schlafzimmer meiner Eltern das verdächtige Geräusch hektisch auf- und zuklappender Schränke und Schubladen. Nichts Gutes ahnend, spurte ich die Wendeltreppe nach oben, wo mir meine Mutter freudestrahlend eröffnet, dass sie sich entschieden hat, sich mit uns auf den Weg zu machen und meinen Vater allein zurückzulassen.
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