Und dann der Himmel
Sie fragt nicht, sie stellt fest. Dass ich vielleicht etwas dagegen haben könnte, kommt ihr nicht in den Sinn. Nicht einmal mein Einwand, dass dann Sabine den Plan aufgeben muss, die Weihnachtstage mit den Kindern in Himmelstadt zu verbringen, scheint sie zu beeindrucken. Sie hat einen ziemlichen Dickschädel, genau wie ich. Erstaunlicherweise macht es ihr auch nichts aus, dass außer Rafael niemand weiß, wohin wir als nächstes fahren. Nicht das Ziel, sondern die Reise an sich scheint ihr Zweck genug zu sein.
„Eine Fahrt ins Blaue!“ erklärt sie begeistert. „Endlich passiert mal was! Endlich mal ein Abenteuer!“
„Und für dieses zweifelhafte Vergnügen willst du deinen Mann und deine Ehe zurücklassen?“ frage ich schockiert.
„Ach, soll der alte Langweiler doch seine Hämorrhoiden pflegen und an seinem Schaukelstuhl festwachsen!“ versucht meine Mutter die Diskussion im Keim zu ersticken. „Es hat früher ein Leben außerhalb dieses Dorfes gegeben, es muss auch jetzt noch eins für mich da sein. Wenn er nicht will, lebe ich es eben allein!“
Da ist sie wieder, die Sturheit meiner Mutter, die mich auf die Palme bringen kann und doch immer wieder an mich selber erinnert.
„Und wo soll es sein, dieses Leben?“ frage ich und bleibe demonstrativ im Türrahmen stehen, als wollte ich ihr den Weg blockieren. „Glaubst du, es hat vierzig Jahre lang einfach irgendwo auf dich gewartet, nachdem du dich damals für eine Familie entschieden hast? Es gibt keine Sponti-Szene mehr. Die Hausbesetzer sind in den Schoß des Bürgertums zurückgekehrt, zahlen ihre Eigentumswohnungen ab und Joschka sitzt auch nicht mehr in einer Eckkneipe und will die Welt verbessern. Das hat er nicht mehr nötig, nachdem er jahrelang im Auswärtigen Amt residiert und Toskanaweine verköstigt hat“, argumentiere ich boshaft, aber meine Mutter tut so, als würde sie mich nicht hören. Geschäftig zerrt sie einen Koffer unter der Schlafzimmerkommode hervor und beginnt, Wäscheregale leer zu räumen, als hätte sie diesen Schritt von langer Hand vorbereitet und nur noch eines geringfügigen Anlasses bedurft, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.
„Man geht nicht einfach so aus dem Haus, ohne eine Vorstellung von dem zu haben, was man in Zukunft tun will! Und man lässt nicht einfach so einen Menschen fallen, den man geliebt hat“, versuche ich es erneut. Vielleicht funktioniert es ja, wenn ich ihr ein schlechtes Gewissen mache. „Du kannst die Vergangenheit nicht abstreifen wie ein altes Paar Schuhe!“
„Sprichst du von dir?“ flüstert mir Rafael in diesem Moment ins Ohr und ich zucke zusammen, weil ich seine Anwesenheit nicht bemerkt habe und die Ironie in seiner Stimme nicht verstehen will.
„Ach, verschwinde!“ sage ich ungehalten zu ihm. „Geh deine Flügel putzen, frohe Botschaften verkünden oder was Engel sonst so tun!“
„Ich bin gerade dabei“, erwidert Rafael liebenswürdig und zwinkert über meine Schulter hinweg meiner Mutter zu. „Ich helfe Menschen, die vom rechten Weg abgekommen sind, ihn wiederzufinden.“
„Schön! Der rechte Weg meiner Mutter ist, bei meinem Vater zu bleiben! Sag ihr das!“
Wie nicht anders zu erwarten, ignoriert Rafael meine Aufforderung. „Gleich nach dem Frühstück morgen früh brechen wir auf“, gibt er stattdessen bekannt und lächelt meine Mutter an. Er hört sich an wie ein Reiseleiter von Neckermann und ich habe erneut das Gefühl, dass er diese Entwicklung der Ereignisse zumindest vorausgesehen, wenn nicht sogar gefördert hat.
„Ja, aber … es ist kein Platz mehr im Wagen“, protestiere ich, wenn auch nicht mehr so entschieden. Es ist ja sowieso zwecklos. „Und wo soll es überhaupt jetzt noch hingehen?“
„Natürlich ist Platz vorhanden, wir haben einen geräumigen Wagen. Und was unser Ziel angeht – lass dich überraschen“, entgegnet Rafael und schiebt meine Einwände einfach beiseite. „Darin müsstest du doch langsam Übung haben!“
„Ja, klar“, stöhne ich, „und jedes Mal ist es schlimmer geworden.“
Als letzten Ausweg rufe ich meine Schwester zu Hilfe, die mit einer von Annikas schmutzigen Windeln in der Hand und einem angewiderten Gesichtsausdruck auftaucht, und fordere sie auf, unserer Mutter ins Gewissen zu reden. Die Unterstützung durch Sabine fällt aber verhaltener aus, als ich mir erhofft habe – als wäre sie selber nicht sonderlich davon überzeugt, dass es richtig sei, einen Versuch zu unternehmen, die Beziehung unserer
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