Und dann der Himmel
verdächtigen, silbrigen Klang gegen den Gürtel, den die dürre, flachbrüstige Organistin um die Taille geschwungen hat, um der Toga etwas mehr Form zu verleihen. Die silbernen, strassbesetzten Pantoffeln sind ausgelatscht und scheinen der Wühlkiste eines Ramsch-Kaufhauses entnommen worden zu sein, und auf den nackten Waden des Christkinds kann man dunkelblaue Krampfadern erkennen. Ich fange an zu kichern, aber mein Vater jagt mir unauffällig seinen Ellenbogen in die Seite und murmelt: „Reiß dich zusammen, Marco.“
„Ja, aber sie ist grauenhaft!“ protestiere ich feixend.
„Sie gibt ihr Bestes!“ erklärt mein Vater mit einem warnenden Seitenblick. „Es gibt keinen Grund, sich über sie lustig zu machen!“
„Ach, jetzt komm schon, Leo“, mischt sich meine Mutter in die getuschelte Diskussion ein, „der Junge hat doch Recht. Das Schauspiel grenzt ans Groteske und ein besoffenes Christkind setzt dem Ganzen noch die Krone auf!“
„Natürlich!“ erwidert mein Vater verärgert. „Du findest das alles mal wieder nur komisch. Es geht doch nicht darum, wie sie es macht, sondern dass sie es macht! Oder würdest du freiwillig eine solche Rolle übernehmen?“
„Ich?“ fragt meine Mutter empört. „Ich würde mich niemals derart zum Popanz machen!“
Bevor der Streit zwischen meinen Eltern eskaliert, wende ich meine Aufmerksamkeit wieder Frau Birtle-Herkenrath zu und versuche, mein Grinsen zu unterdrücken. Es sieht so aus, als wären die Zuschauer der Meinung meines Vaters, denn niemandem sonst fällt scheinbar der angeschlagene Zustand des Christkinds auf. Stattdessen beginnen die Menschen zu klatschen, aufgeregte Kinderhände winken der verkleideten Organistin zu, die Blitze der Fotoapparate zucken und dann bildet sich ein Spalier, um dem Christkind den Weg zur Treppe frei zu machen.
Entsprechend dem Bild, das in der Vorstellung der Menschen vom Christkind verbreitet ist, versucht die Organistin die Stufen hinaufzuschweben oder sie zumindest so leichtfüßig wie möglich zu nehmen, dabei einen gütigen Gesichtsausdruck aufzusetzen und zusätzlich in einer Art segnenden Geste über ein paar Kinderköpfe zu streichen. Dem wirklichen Christkind würde das wahrscheinlich keine Schwierigkeiten bereiten; der mit hochprozentigem Klosterfrau Melissengeist benebelte Kopf von Frau Birtle-Herkenrath ist mit diesen komplexen Koordinationsaufgaben jedoch hoffnungslos überfordert. Auf der vierten Stufe stolpert sie jedenfalls über ihre eigenen Füße und verliert wie das Aschenputtel einen Pantoffel. Sie kippt zur Seite, kann sich jedoch glücklicherweise am Geländer noch fangen, bevor sie der Länge nach auf den Boden aufschlägt. Allerdings fällt bei ihren unfreiwilligen Verrenkungen der Flachmann aus der Toga und poltert mit einem lauten Klirren die Treppe herunter, wo er vor den Füßen des Trompeters zum Liegen kommt. Das wiederum hat zur Folge, dass der Blechbläser mitten im Lied aufhört zu spielen und nach und nach die gesamte Blaskapelle verstummt, bis auf einmal eine Totenstille vor dem Postamt eintritt und alle Blicke gebannt den Flachmann in Augenschein nehmen. Ich versuche, mein Lachen hinter einem Hustenanfall zu verbergen. Auch meine Mutter hat Mühe, sich zusammenzureißen.
Doch in dieser peinlichen Situation kommt Frau Birtle-Herkenrath ihre langjährige Erfahrung als Organistin zugute, denn wie sagt man im Showbusiness: The show must go on! Und entsprechend dieser Devise rappelt sich das angeschlagene Christkind mit hochrotem Gesicht auf, steckt trotzig den heruntergefallenen Heiligenschein wieder fest, zupft die Toga zurecht und setzt zu der zaghaft wieder spielenden Blasmusik seinen Weg fort, diesmal allerdings mit einem Gesichtsausdruck, der keine Güte, sondern nur noch grimmige Entschlossenheit signalisiert, und mit weit ausholenden Schritten, die den Einzug des Christkinds in das Postamt eher einem Sturmangriff von verzweifelten Bodentruppen als der Ankunft eines himmlischen Abgesandten gleichen lassen.
Dennoch scheinen der kleine Zwischenfall und der Alkoholgenuss ihre Spuren hinterlassen zu haben, denn als die Organistin mit wehendem Umhang die kleine Halle betritt, in der wir alle gespannt dem Höhepunkt der Show entgegenfiebern, kann man ihrem Mienenspiel entnehmen, dass sie kurz davor ist, die Fassung zu verlieren, und die Farce einfach nur noch so schnell wie möglich beenden will. So wie ein Ertrinkender sich an ein treibendes Stück Holz klammert, stützt sie sich
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