Und dann der Himmel
CDs sind Hörspielkassetten von Bibi Blocksberg und Pumuckl aufgetaucht; auf der Rückbank verteilt Sabine Mandarinen und Nüsse und richtet eine Abfalltüte an einem der Türgriffe ein. Das Einzige, was unserem fahrenden Hausstand noch fehlt, sind eine batteriebetriebene Kochplatte und ein Fernseher, damit Simon seine Lieblingssendungen nicht verpasst.
Vor lauter Müdigkeit fällt es mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Wahrscheinlich bin ich bald so weit, dass weiße Mäuse vor meinen Augen tanzen. Es ist ja wissenschaftlich erwiesen, dass man durch Schlafentzug wahnsinnig werden kann. Dazu kommt noch, dass ich mit meiner Platzwunde auf der Stirn, den dunklen Ringen unter den Augen und der fahlen Gesichtsfarbe wie ein Zombie aussehe.
Was mich derzeit aufrechterhält, ist die innere Genugtuung, dass Rafael nichts mehr erfahren hat. Wenn ich wach bin, hält – bildlich gesprochen – Finn die Klappe, und Rafael wird nie herausfinden, was zwischen uns eigentlich passiert ist. Einen Tag muss ich noch durchhalten, dann wird mein Engel dahin zurückkehren, wo immer er auch hergekommen ist, und ich werde gewonnen haben. Allerdings darf ich mir keinen Lapsus mehr erlauben, so wie gestern Nachmittag, denn die Wahrheit ist nur noch wenige Träume entfernt.
Natürlich haben die Vorhaltungen des gestrigen Abends meine Mutter nicht umstimmen können, über ihren Plan noch einmal nachzudenken. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, gibt es keine Macht der Welt, die sie davon abbringen kann. Folgerichtig sitzt sie jetzt mit im Wagen, auf dem kleinen Nothocker hinter der Rückbank, den Rafael für sie aufgeklappt hat. Adolf hat sich auf den Boden gelegt und wärmt ihr die Füße. Es ist sicherlich nicht sehr gemütlich, der Sitz ist hart und in den Kurven muss sie sich am Türgriff festhalten, aber wenn ich mich nach hinten drehe, kann ich nicht erkennen, dass meine Mutter ihre Entscheidung bereut. Im Gegenteil, sie scheint ausgesprochen gute Laune zu haben, schenkt heißen Hagebuttentee aus ihrer Thermoskanne aus und erzählt Simon und Annika das Märchen von Hänsel und Gretel. Ich schüttele fassungslos den Kopf.
Wir setzen unsere Zickzackreise quer durch Deutschland fort. Ich habe von Rafael noch immer keine Auskunft erhalten, welches Ziel er als nächstes ansteuert, aber anhand der Hinweisschilder auf der Autobahn kann ich zumindest erkennen, dass wir uns in Richtung Südwesten fortbewegen. Wir haben den Neckar überquert und nähern uns langsam den ersten Ausläufern des Schwarzwaldes. Wenn Rafael mir meine Unzulänglichkeiten und meine Fehler vor Augen führen will – und nichts anderes beabsichtigt er ja –, dann ist er hier auf dem Holzweg. Ich kenne niemanden in dieser Ecke und meine Ratlosigkeit wächst mit jedem Kilometer. Was hat Rafael bloß vor? Und was ist mit dem Mann meiner Träume, den er mir versprochen hat? Wo bleibt der? Schließlich ist Rafael derjenige, der andauernd betont, dass ihm die Zeit davonrennt. Wenn ich die Aussagen des Engels für bare Münze nehme, müsste mein Traumprinz eigentlich jeden Moment um die Ecke biegen.
Wir passieren einen Anhalter und unwillkürlich nehme ich den jungen Kerl näher in Augenschein. Er trägt Schlabberjeans, eine scheußliche, leuchtend orangefarbene Wollmütze, unter der ein wirrer Haarschopf nur mühsam gebändigt wird, feiner, blonder Bartflaum sprießt in unregelmäßigen Abständen wie versprengte Mooskissen auf seinen Wangen und auf seinem Rucksack prangt ein riesiges Peace-Zeichen. In der rechten Hand hält er lässig ein Skateboard. Als wir an ihm vorbeifahren, atme ich erleichtert auf. Rafael grinst verstohlen und schüttelt den Kopf.
„Falsch getippt“, sagt er.
„Zum Glück!“ erwidere ich. „Der war ja kaum aus dem Kindergarten raus! Jemand in meiner Altersklasse wäre mir lieber!“
„Ja“, sagt Rafael, „ich weiß.“
Nach einer Weile werden die Kinder unruhig und wir steuern eine Raststätte an, wo Sabine mit meiner Nichte und meinem Neffen die Toiletten aufsucht, während Rafael den Wagen volltankt – natürlich mit meiner Kreditkarte. Ich versuche, mein Gähnen zu unterdrücken, nehme Adolf an die Leine und schlage mich ins nächste Gebüsch. Es dauert ewig, bis er mit Pinkeln fertig ist.
Auf dem Parkplatz ist nicht viel los, etwas abseits stehen ein paar Lkws von Speditionsfirmen aus Hannover, Koblenz und Dresden. Von den Fahrern ist nichts zu sehen, wahrscheinlich dösen sie im Führerhäuschen oder essen in dem
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