Und dann der Himmel
schwer atmend mit den Ellbogen auf den Tresen vor dem Postschalter, starrt dem noch immer schwitzenden Beamten einen Moment herausfordernd in die Augen und faucht ihn dann wütend an: „Na, mach schon, Erwin, ich bin’s, das Christkind! Wirf endlich den Sack mit den Briefen rüber, ich will es hinter mich bringen!“ Mit dem letzten Satz verliert Frau Birtle-Herkenrath endgültig die Haltung und die letzten Reste ihrer fragwürdigen Kontrolle, rülpst einmal laut und sinkt dann im Zeitlupentempo am Schalter zu Boden.
In diesem Moment ist es natürlich vorbei mit meiner Selbstbeherrschung. Während dem Bürgermeister ein hilfloses „Oh!“ entfährt und die Erstklässler neben uns das zur Furie gewordene Christkind mit offenem Mund und tellergroßen Augen anstarren, fange ich an zu wiehern wie ein Pferd. Es schüttelt mich von oben bis unten, ich kann mich vor Lachen nicht mehr aufrecht halten und beuge mich wie ein Klappmesser nach unten. Tränen schießen mir in die Augen, mein Zwerchfell tut weh, ich bekomme Seitenstiche, aber ich kann nicht aufhören.
„Das … das ist das schrillste Christkind, das ich jemals gesehen habe!“ bringe ich schließlich zwischen mehreren Lachsalven heraus.
Auch meine Mutter kann ihr Gelächter nicht länger unterdrücken. Sie klammert sich an mich, verbirgt ihr Gesicht an meiner Schulter und durch meinen Pullover dringt gedämpft das hilflose, lang gezogene „Hiiiii …“, das ich noch so gut aus meiner Kindheit kenne und mit dem sich bei meiner Mutter immer ein nicht mehr aufzuhaltender Heiterkeitsanfall ankündigt. Gleich darauf fangen ihre Schultern an zu zucken und dann steigt aus ihrem Bauch ein Glucksen herauf und bricht sich seine Bahn, bis auch meine Mutter lauthals und haltlos lacht.
Um uns herum regiert das Chaos. Der Bürgermeister und seine Frau verlassen fluchtartig die Schalterhalle, mein Vater schimpft wütend auf meine Mutter ein, dass sie sich endlich beherrschen solle, Sabine schiebt ihre sprachlosen Kinder zurück ins Freie und bedeutet mir, dass sie draußen auf uns wartet, während andere Zuschauer in die Halle strömen, um zu sehen, was denn passiert ist, und die Erstklässler stehen da wie begossene Pudel, weil das Christkind ihnen den Auftritt versaut hat.
Nur Rafael bleibt ruhig. Er geht langsam nach vorne, hilft Frau Birtle-Herkenrath wieder auf die Beine und klopft ihr beruhigend auf die Schulter.
„Das war gar nicht so schlecht“, sagt er freundlich, wenn auch nicht ganz wahrheitsgemäß.
Die Organistin, die inzwischen langsam zu sich kommt und bemerkt, was sie angerichtet hat, sieht Rafael ungläubig an. „Es war furchtbar“, erwidert sie schwach. „Es war unverzeihlich.“
Aber der Engel schüttelt den Kopf. „Gott kommt es nicht auf Perfektion an. Niemand ist vollkommen. Er ist mehr an der guten Absicht interessiert.“ Dabei wirft er mir einen kurzen Blick zu. Ich tue so, als hätte ich ihn nicht gehört.
Rafaels Zuspruch hat aber nicht den beruhigenden Effekt auf Frau Birtle-Herkenrath, den er sich vielleicht erhofft hat, denn plötzlich fängt sie an zu schlucken und dann springen ihr Tränen in die Augen. „Es ist nur …“, stottert sie, „seit mein Mann gestorben ist … alles geht schief. Ich bin so schrecklich einsam und …“ Sie bricht ab und starrt Rafael an. „Tut mir Leid“, flüstert sie, „ich wollte nicht …“ Hastig wischt sie ihre Tränen am Ärmel der Toga ab und dann flieht sie aus dem Postamt, bevor Rafael sie zurückhalten kann.
Rafael seufzt. „Lasst uns gehen“, sagt er bedrückt, und schweigend und zumindest in meinem Fall mit einem schlechten Gewissen machen wir uns alle auf den Heimweg.
Als wir wieder zu Hause sind, beschließen Rafael, Sabine und ich, mit Simon Monopoly zu spielen, und ziehen uns ins Wohnzimmer auf der ersten Etage zurück. Meine Eltern beschäftigen sich unten in der Küche und bereiten das Abendbrot vor. Natürlich kommen meiner Schwester bei dem Spiel ihre Erfahrungen als Finanzhai zugute und sie besitzt innerhalb kürzester Zeit eine reichhaltige Auswahl der teuersten Straßen, die sie schamlos mit Hotels zupflastert. Eine moderne Wegelagerin, die harmlose Passanten ausplündert und auch noch ihre Freude daran hat. Ich dagegen habe Pech und lande ständig im Gefängnis, muss teure Übernachtungsgelder auf Sabines Straßen blechen oder erhalte kein Los-Geld. Schon nach wenigen Runden habe ich kaum noch finanzielle Mittel und miese Laune. Ich war schon immer ein schlechter
Weitere Kostenlose Bücher