Und dann der Tod
nicht?«
Was sind Sie? So eine Art Ungeheuer?
»Warum nicht, Bess?«
»Er ist gestorben«, flüsterte sie. »Sie sind alle gestorben.«
»Und wie?«
»Es war die Guerilla. Eigentlich herrschte ein Waffenstillstand, aber es gab immer noch Gefechte. Ich arbeitete hundert Kilometer entfernt von Danzar an einer anderen Reportage, als wir es erfuhren. Ich ließ meinen Fahrer kehrtmachen und zurück nach Danzar fahren. Die Guerilla war schon wieder abgezogen, aber die Hunde jaulten. Sie jaulten und jaulten … Ich ging ins Waisenhaus. Die Kinder waren tot, abgeschlachtet. Niko lag in der Küche. Wer konnte ein Kleinkind töten? Ungeheuer. Sie konnten nur Ungeheuer sein.«
»Stimmt.«
»Ich ging durch das Waisenhaus und machte Fotos. Ich wußte, man würde es leugnen, wenn erst Frieden geschlossen war. Es würde vertuscht und vergessen werden. So läuft es doch immer.
Das konnte ich nicht zulassen. Ich wollte der Welt zeigen –« Sie konnte kaum noch sprechen und versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken. »Ich konnte nicht zulassen –«
»Psst. Ich weiß.«
»Nein, Sie wissen es nicht. Sie sind nicht dort gewesen.«
Er schwieg eine Zeitlang und erhob sich dann. »Ich würde Sie gerne trösten, aber Sie nehmen es nicht an. Sie wollen mich nicht hier haben. Sie fürchten, ich könnte denken, daß Sie nicht so tapfer sind, wie Sie sein müßten.« Seine Hand berührte ihre Haare mit derselben Behutsamkeit, mit der er sie zuvor im Bad behandelt hatte. »Aber Sie irren sich. Ich bin gleich wieder da.«
Sie hörte seine Schritte auf der Treppe.
Sie lag da, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Das Schluchzen hörte auf, aber die Tränen flossen weiter.
Die Babys …
Was hatte sie getan? Sie fühlte sich, als wäre ihr Innerstes nach außen gestülpt worden. Nachdem sie einmal angefangen hatte, sprudelten die Worte aus ihr heraus, und sie konnte gar nicht mehr aufhören. Wie kam sie dazu, all ihre Erinnerungen und all ihren Schmerz vor Kaldak auszubreiten?
Es ist, als würden Sie mit sich selber reden.
In gewisser Weise war es so gewesen. Er hatte sich zurückgenommen, hatte sich unsichtbar gemacht und die Worte in die Dunkelheit sprudeln lassen. Und dann hatte er sie allein gelassen, damit sie ihr Gesicht nicht verlor. Warum –
»Ist es Ihnen recht, wenn ich das Licht anmache?« Kaldak war wieder da, sie sah seine riesige Gestalt auf dem Treppenabsatz.
»Natürlich.« Sie holte tief Luft und wischte sich schnell die Tränen an der Bettdecke ab. »Aber warum fragen Sie jetzt? Ich kann mich nicht erinnern, daß Sie um Erlaubnis gebeten haben, es auszumachen.«
»Alles zu seiner Zeit.« Er ging ins Badezimmer und schaltete dort das Licht an. »Die Situation ist nicht mehr dieselbe.« Er trat auf sie zu. »Trinken Sie das.«
Er reichte ihr ein Glas Milch.
»Du liebe Güte, warme Milch?« fragte sie. »Ist das ein Hausmittel Ihrer Mutter?«
»Kalte Milch.« Er deutete ein Lächeln an. »Wenn ich sie auch noch warm machen würde, würden Sie doch nur denken, ich wollte Sie wieder mit meiner Häuslichkeit beeindrucken.«
Sie betrachtete ihn über den Rand des Glases hinweg, während sie einen Schluck trank. Er machte absolut nicht den Eindruck von Häuslichkeit. Erst jetzt fiel ihr auf, daß er barfuß war und mit nacktem Oberkörper und zerzaustem Haar vor ihr stand. Er sah muskulös und kraftvoll aus.
Und sie sah wahrscheinlich fürchterlich aus. Gott sei Dank hatte er nur das Licht im Bad angemacht. Sie fühlte sich ohnehin reichlich verletzlich. Hatte er deshalb nicht das Deckenlicht eingeschaltet, das noch mehr enthüllt hätte?
»Trinken Sie alles aus.«
Sie nahm noch einen Schluck und gab ihm das Glas zurück.
»Das reicht.«
»Na gut.« Er zögerte einen Moment. »Darf ich fragen, was mit den Fotos passiert ist, die Sie in Danzar gemacht haben?«
»Der Film ist beschlagnahmt worden.«
»Wie bitte?«
»Sie haben richtig verstanden. Als ich ins Hauptquartier der Armee kam, beschlagnahmte der Oberst den Film. Er meinte, der Film sei aufhetzend, und ihn zu veröffentlichen würde dem Friedensprozeß schaden. Ich wäre beinahe durchgedreht. Ich habe geschrien und gezetert. Ich habe alle Politiker benachrichtigt, die ich kannte. Es hat nichts genützt. Die Armeeärzte meinten, ich hätte einen Nervenzusammenbruch, und steckten mich in Sarajevo in ein Krankenhaus. Sie behielten mich wochenlang da. Als ich entlassen wurde, war das Massaker bereits fein säuberlich vertuscht worden.« Sie
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