Und dann gabs keines mehr
abwegig… Diese reizende junge Person – die Stimme hatte sie beschuldigt, ein Kind ertränkt zu haben. Idiotisch! Irgendein Verrückter, der mit Anschuldigungen um sich warf!
Emily Brent, die auch – dabei war sie die Nichte des alten Tom Brent aus dem Regiment. Die Stimme hatte sie des Mordes beschuldigt! Dabei konnte jeder Einäugige sehen, dass die Frau so fromm wie nur irgend möglich war – die Sorte, die mit Pfaffen verkehrte.
Die ganze Sache war verrückt! Verrückt, nichts als verrückt.
Seitdem sie hierher gekommen waren – wann war das? Verdammt, das war erst an diesem Nachmittag. Es schien ein ganzes Ende länger.
Er dachte: «Ich würde gern wissen, wann wir von hier wieder wegkommen.»
Morgen natürlich, wenn das Motorboot vom Festland kam.
Seltsam, in diesem Augenblick wollte er gar nicht weg von der Insel… zurück zum Festland, zurück in sein kleines Haus, zurück zu allen Problemen und Sorgen. Durch das offene Fenster konnte er die Wellen hören, die sich an den Felsen brachen – ein wenig lauter als früher am Abend. Auch der Wind erhob sich jetzt.
«Ein friedliches Geräusch», dachte er. «Ein friedlicher Ort…»
Er dachte: «Das Beste an einer Insel, bist du erst einmal da, ist – dass du nicht weiter kannst… du kommst an das Ende der Dinge…»
Plötzlich wusste er, dass er die Insel gar nicht verlassen wollte.
VI
Vera Claythorne lag hellwach in ihrem Bett und starrte an die Decke.
Neben ihr brannte das Licht. Sie hatte Angst vor der Dunkelheit.
«Hugo… Hugo…», dachte sie gerade. «Warum fühle ich, dass du mir heute Abend so nah bist?… Irgendwo ganz in der Nähe…»
«Wo ist er wirklich? Ich weiß es nicht. Ich werde es nie wissen. Er ging einfach weg – weg aus meinem Leben.»
Es nutzte nichts, nicht an Hugo denken zu wollen. Er war ihr nah. Sie musste an ihn denken – zurückdenken…
Cornwall…
Die schwarzen Felsen, der weiche gelbe Sand. Mrs. Hamilton, stämmig und gut gelaunt. Und Cyril, immer ein wenig quengelig, an ihrer Hand zerrend.
«Ich will zum Felsen schwimmen, Miss Claythorne. Warum kann ich nicht raus zum Felsen schwimmen?»
Und sie sah hoch – traf auf Hugos Augen, die sie beobachteten.
Die Abende, als Cyril längst im Bett lag…
«Wie wär’s mit einem kleinen Spaziergang, Miss Claythorne?»
«Was für eine gute Idee.»
Der schickliche Abendspaziergang den Strand entlang. Das Mondlicht – die weiche Atlantikluft.
Und dann Hugos Arme, die sie umschlangen.
«Ich liebe dich. Ich liebe dich. Weißt du, dass ich dich liebe, Vera?»
Ja, sie wusste es.
(Oder dachte, sie wüsste es.)
«Ich kann dich nicht bitten, mich zu heiraten. Ich besitze keinen Pfennig. Ich kann gerade mich selbst durchbringen. Komisch, weißt du, einmal hatte ich drei Monate lang das Glück, mir vorzustellen, ich würde ein reicher Mann. Cyril wurde erst drei Monate nach dem Tod von Maurice geboren. Wenn er ein Mädchen gewesen wäre…»
Wenn das Kind ein Mädchen gewesen wäre, hätte Hugo alles geerbt. Er war enttäuscht gewesen, das gab er zu.
«Ich hatte natürlich nicht darauf gebaut. Aber es war doch ein Schlag. So geht’s. Pech. Cyril ist ein nettes Kind. Ich mag ihn schrecklich gern.» Und er mochte ihn wirklich. Immer bereit, mit seinem kleinen Neffen Spiele zu spielen und ihn zum Lachen zu bringen. Verbitterung lag nicht in Hugos Wesen.
Cyril war nicht sehr kräftig. Ein schwächliches Kind – keine Widerstandskraft. Die Sorte Kind, vielleicht, die nicht lange genug lebte, um erwachsen zu werden…
Und dann…?
«Miss Claythorne, warum kann ich nicht zum Felsen rausschwimmen?»
Diese irritierende, nervende Wiederholung.
«Es ist zu weit, Cyril.»
«Aber Miss Claythorne…»
Vera stand auf. Sie ging zur Frisiertoilette und schluckte drei Aspirin. «Ich wünschte, ich hätte richtige Schlaftabletten.»
Sie dachte:
«Wenn ich mich umbringen wollte, würde ich eine Überdosis Veronal nehmen – etwas in der Art – kein Zyankali!»
Sie fröstelte, als sie sich an Anthony Marstons verzerrtes lila Gesicht erinnerte.
Als sie am Kaminsims vorbeikam, sah sie auf die gerahmten Verse:
Zehn kleine Negerlein,
die zechten in der Scheun’.
Eins verschluckte sich dabei,
da waren’s nur noch neun.
«Es ist schrecklich», dachte sie. «Genau wie heute Abend…»
Warum hatte Anthony Marston sterben wollen?
Sie wollte nicht sterben.
Sie konnte sich nicht vorstellen, sterben zu wollen…
Der Tod – war für die
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