Und dann kusste er mich
wieder in die Sicherheit seines Schlafplatzes neben dem Herd zu flüchten, der mit einer verblichenen bunt karierten Wolldecke gepolstert war.
Tante Mags packte mich an den Schultern und hielt mich auf Armeslänge von sich entfernt. »So, lass dich erst einmal ansehen.« Ihre Augen wurden schmal. »Hmmm. Oh je. In diesem hübschen Köpfchen herrscht ja ein ziemliches Durcheinander. So viele Fragen und Probleme. Da hilft nur eins …«
Sie ging zu den Kuchenformen und Backblechen, die kreuz und quer auf den Bänken und dem eingebauten Tisch des sogenannten Speisesaals übereinandergestapelt waren, hob Deckel an und zog Bleche hervor, bis sie das Gesuchte gefunden hatte.
»Ah, da ist er ja!« Sie hielt mir die Kuchenform unter die Nase. »Mokka-Walnuss-Kuchen. Das ist genau das, was du jetzt brauchst.«
Und sie hatte Recht – wie jedes Mal.
Vielleicht lag es daran, dass sie so oft backte – oder dass sie (wie ich insgeheim vermutete) eine Art von kulinarischer Hellsichtigkeit besaß –, doch Tante Mags’ Fähigkeit, für jede Gemütslage immer den genau richtigen Kuchen zu verordnen, ist praktisch legendär. Liebeskummer? »Zitronenkuchen, schlicht und einfach.« Sorgen? »Obstkuchen. Das Einzige, was funktioniert.« Erschöpft? »Cappuccinocreme-Kuchen – der macht dich munter, Schätzchen.«
»Du bist ein Genie, Tante M«, sagte ich lächelnd, als Onkel Dudley den Tee einschenkte und Tante Mags ein riesiges Stück Kuchen mit einem altertümlichen Butter messer abschnitt, das sie todsicher einem von Onkel Dud leys zahllosen Flohmarktbesuchen zu verdanken hatte.
»Unsinn. Jeder weiß, dass Mokka-Walnuss-Kuchen bei wichtigen Entscheidungen unerlässlich ist. Stimmt’s, Dudley?«
Onkel Dudley nickte weise: »Absolut.«
So dubios diese Logik auch sein mochte, ich ertappte mich dabei, wie ich dümmlich vor mich hingrinste. »Und welche wichtigen Entscheidungen habe ich eurer Meinung nach zu fällen?«
»Kuchen können einem nicht alles sagen«, erwiderte meine Tante und drohte mir mit dem Buttermesser. »Also klär uns auf, liebste Nichte.«
Ich täuschte Protest vor, war in Wahrheit aber froh, dass sie gefragt hatte. Tatsache war, ich brauchte den Rat der beiden. Von allen Menschen, die ich kannte, waren sie wahrscheinlich die einzigen, die die Fähigkeit (und die Bereitschaft) besaßen, mich wirklich zu verstehen.
Aufmerksam hörten sie zu, als ich von den Ereignissen jenes schicksalhaften Tages erzählte, und unterbrachen mich nur gelegentlich, um etwas nachzufragen.
»Warum bist du quer über den Weihnachtsmarkt gerannt?«
»Weil ich Charlie kurz davor eröffnet hatte, dass ich ihn liebe.«
Meine Tante und mein Onkel tauschten einen beredten Blick. »Oh.«
»Aber das ist nicht wichtig, weil es ein Irrtum war. Dieser Typ, der mich küsste, hat alles verändert.«
»Er hat dich geküsst?«
»Ja. Es war nur kurz, aber …« Ich hielt inne, war mir plötzlich unsicher, ob es sich für eine Nichte schickte, dieses Thema mit Onkel und Tante zu besprechen. Doch der erwartungsvolle Ausdruck, der sich nahezu identisch in ihren Mienen spiegelte – und mich spontan an die bei den Staffordshire-Porzellanhunde erinnerte, die jeweils eine Seite von Mums Marmorsims aus Alabasterimitat bewachten –, bewegte mich dazu fortzufahren: »Es war atemberaubend.«
Onkel Dudley tätschelte aufgeregt die Hand seiner Gattin. »Magie! Genau wie bei uns beiden, Schatz!«
Tante Mags verdrehte die Augen und schnaubte laut: »Ignorier ihn, Romily, er macht sich da was vor. Erzähl weiter.«
»Das war schon alles. Ich weiß, ich sollte es einfach als Erlebnis abhaken, als einen dieser packenden, flüchtigen Momente, die einem immer eine Gänsehaut verursachen werden, wenn man daran zurückdenkt. Aber ich überlege ständig …«
»Der Reiz des Möglichen «, rief Onkel Dudley dazwischen. »Wie unwahrscheinlich es auch sein mag, du wirst das Gefühl nicht los, dass es passieren könnte .«
Mein Herzschlag setzte einen Takt lang aus. »Genau!«
»Und du willst ihn wiederfinden«, bemerkte Tante Mags nickend. »Aber du weiß nicht, wo du mit der Suche anfangen sollst.«
»Ach, ich liebe euch! Also, was soll ich tun?«
Onkel Dudley stand auf, um frisches Teewasser aufzusetzen. »Ich finde, du solltest die Sache angehen. Was könnte schlimmstenfalls passieren, hm?«
»Demütigung, Enttäuschung und der wenig attraktive Ruf einer verzweifelten Frau?« Ich aß einen Bissen Kuchen und musterte meine Tante, die tief in
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