Und dann kusste er mich
hat.«
»Hoffentlich sind die wirklich so gut. In diesem Jahr war er ja nicht gerade erfolgreich.«
»Hack nicht auf ihm herum, er ist noch im Lernprozess. Schließlich ist er erst seit kurzem unser Manager«, erwiderte sie mit strengem Blick. »Dwayne gibt sich wirklich Mühe. Und er braucht unsere Unterstützung. Jedenfalls scheint er diesmal ein paar großartige Gigs organisiert zu haben.«
»Du bist zu nett zu ihm«, neckte ich sie. »Er muss sich morgen Abend einfach beweisen, mehr verlange ich nicht.«
»Hm«, brummte Wren. Hinter ihrem halbleeren Weinglas grinste sie anzüglich: »Und er wird nicht der Einzige sein, der sich beweisen muss, was?«
4
We are family?
Als ich am nächsten Morgen mein Fahrrad aus dem Bahnhof schob, hing dichter Nebel über der Innenstadt. Nach den emotionalen Turbulenzen der letzten Tage wollte ich endlich wieder einen klaren Kopf bekommen. Und was wäre da besser geeignet als eine ausgedehnte Fahrradtour?
Die sanften Wiesen und Felder und die malerischen Dörfer, die sich entlang der Straße erstreckten, waren sogar im trüben Dezemberlicht ein großartiger Anblick. Seit mich Jack überredet hatte, bei den Radtouren der Pinstripes mitzumachen, war ich die Strecke nach Kingsbury schon etliche Male gefahren. Jack, Charlie und Tom waren seit der Uni totale Fahrradfreaks und nutzten jede Gelegenheit, um durch möglichst unwegsames Gelände zu radeln. Nachdem mich die »Schrecklichen Drei« wochenlang beschwatzt und mit ihrer Pro-Fahrrad-Propaganda weichgeklopft hatten, verbrachte ich auf der Suche nach einem passenden Drahtesel einen sehr amüsanten Einkaufstag mit Jack, der wie ein Kind mit mir durch die zahllosen Geschäfte hüpfte. Mit Mountainbiketouren über Stock und Stein hatte ich mich zwar nicht anfreunden können, aber dafür liebte ich es, über Land zu fahren – vor allem an Tagen wie diesem, wenn ich zeitlich völlig ungebunden war. Außerdem hatte diese spezielle Strecke einen großen Vorteil: Eine köstliche Kuchenpause in Gesellschaft zweier geliebter Menschen war stets inklusive.
Doch als ich durch das hübsche Örtchen Shustoke fuhr, hatte ich nur einen Gedanken im Kopf: den Fremden vom Weihnachtsmarkt. Die Erinnerung an das aufregende Gefühl seiner Nähe und seines unglaublichen Kusses hatte mich seit Samstag jede Nacht in meinen Träumen heimgesucht und trieb mich schier in den Wahnsinn. Ich musste ihn finden … aber wie? Letztlich waren wir uns am vermutlich hektischsten Einkaufstag des Jahres auf einem überfüllten Weihnachtsmarkt begegnet, umringt von zahllosen Leuten, die ich nie wiedererkennen würde. Die Chancen auf ein Wiedersehen standen also denkbar schlecht. Doch wie Mr Williams, mein früherer Mathelehrer, zu sagen pflegte, enthielt jede winzige Chance eine Möglichkeit, und sei diese auch noch so unwahrscheinlich.
Ich gehörte zu den Menschen, die prinzipiell alles für möglich hielten, weshalb auch die Suche nach meinem »Phantomküsser« für mich kein von vorneherein aus weglos erscheinendes Unterfangen war, wie es für die meisten anderen Leute vermutlich der Fall gewesen wäre. In dieser Hinsicht bin ich meinem Onkel Dudley sehr ähnlich. Er war der positivste Mensch, den ich kannte, immer begeistert von den Möglichkeiten, die das Leben bot, und ohne Angst vor Herausforderungen. Manchmal fragte ich mich, ob ich nicht eher seine Tochter hätte sein sollen als die meines Dads. Der schloss jegliche Risiken nämlich immer erst mit Hilfe seitenlanger Berechnungen aus. Onkel Dudleys Lebensphilosophie lautete, dass am Ende immer alles gut würde. Mit seiner Gesundheit stand es nicht zum Besten, daneben hatten Tante Mags und er im Lauf ihrer Ehe mit einer ganzen Reihe von Problemen fertigwerden müssen (unter anderem mit der Tatsache, dass sie keine Kinder bekommen konnten – was für beide, wie ich weiß, ein schwerer Schlag gewesen war), und sie waren auch nicht reich genug, um ihren Ruhestand völlig sorglos genießen zu können, aber dennoch waren sie ohne Zweifel das glücklichste Paar, das ich kannte.
Auf dem Weg zu meinem Ziel überquerte ich eine kleine gewölbte Brücke über einen Kanal. Am anderen Ende der Brücke bog ich von der Straße auf den Treidelpfad ab, der zu einigen Liegeplätzen führte. Würziger Holzofenrauch kitzelte mich in der Nase, als ich abstieg und das Fahrrad an den Kanalbooten, den sogenannten Narrowboats, vorbeischob, deren Namen ich auswendig kannte: Taliesin, The King, Barely-A-Wake, Adagio, Tith,
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