Und dann kusste er mich
Brindley Place angekommen war, schimmerte mein dunkelblondes Haar nicht mehr glatt und seidig, sondern kräuselte sich feucht und mausfarben. Gut möglich, dass die zukünftige Liebe meines Lebens nach einem kurzen Blick auf mich sofort die Flucht ergreifen würde …
Vor dem Café blieb ich kurz stehen, um tief durchzuatmen und eine irgendwie präsentable Haltung einzunehmen. Da es inzwischen schüttete wie aus Kübeln, war das eine verlorene Schlacht, doch der Vorsatz zählte.
Als ich das Unvermeidliche nicht länger hinauszögern konnte, betrat ich das Kanalschiff. Rasch scannte ich die anwesenden Gäste, bis mein Blick auf einen Mann fiel, der am hinteren Ende saß. Er saß mit dem Rücken zu mir, doch sein gewelltes Haar und der gestreifte Schal waren unverwechselbar.
Oh. Gott. Hilfe! Es war so weit: der Moment, auf den ich gewartet hatte. Ich zog meinen Mantel aus und ging langsam auf mein Schicksal zu …
»Mark?«, fragte ich und legte ihm leicht die Hand auf die Schulter.
»Ja«, sagte er und drehte sich um.
Hätte sich ein mit sieben Tentakeln ausgestatteter Außerirdischer im Café materialisiert und ein Tom-Jones-Medley angestimmt, wäre ich nicht so entgeistert gewe sen wie in diesem Moment. Denn Stimme, Schal, Figur und Haar passten zu der Erinnerung an den Mann, der mir das Herz gestohlen hatte, doch das Gesicht nicht.
Vielleicht hatte ich ihn falsch im Gedächtnis? Schließlich hatte ich nur wenige Minuten mit ihm verbracht, und seitdem waren fünf Monate vergangen. Vielleicht hatte ich in meiner rosarot gefärbten Vorstellung von ihm den Mann gesehen, den ich sehen wollte , und nicht den, der er wirklich war. Bei unserer Begegnung war ich ziemlich daneben gewesen, war es da nicht möglich, dass der Schock über Charlies Abfuhr und mein Zusammenstoß mit dem Plüschtierstand meine Wahrnehmung beeinträchtig hatten?
Mir wurde bewusst, dass ich ihn anstarrte wie eine Idiotin, also setzte ich mein freundlichstes Lächeln auf und nahm Platz. Ich musste die Realität akzeptieren und meine Traumvorstellung von ihm begraben.
»Ich habe Kaffee bestellt, ist das okay für dich?«, fragte er, während ich mich nach Kräften bemühte, seine schiefen Zähne zu ignorieren – vermutlich ein weiteres Detail, das ich radikal gelöscht hatte.
»Kaffee ist gut.« Hatten seine Augen auf dem Weihnachtsmarkt nicht ein anderes Braun gehabt, ein Haselnussbraun? Doch als ich kurz darüber nachsann, konnte ich mich plötzlich gar nicht mehr an seine Augenfarbe erinnern. »Danke, dass du dich gemeldet hast.«
»Na ja, mein Bruder hat die Anzeige gesehen und mir davon erzählt.«
»Warst du mit ihm unterwegs an dem Tag, als wir uns trafen?«
»Ja.« Hatte er da mit den Augenbrauen gezuckt?
»Zwei Kaffee?«, fragte die junge Bedienung und unterbrach unser Gespräch. Während sie Tassen, Kaffeekännchen, Milchkännchen und Löffel auf den Tisch stellte, nutzte ich die Gelegenheit, um mich zu sammeln. Vielleicht wollte mir der Allmächtige auf diese Weise eine Lektion erteilen, weil ich so oberflächlich war und so viel Wert auf das Äußere legte, und mich ermahnen, genauer hinzusehen und die innere Schönheit zu erkennen.
Etwa zehn Minuten lang unterhielten wir uns über dies und das, und mir wurde immer unbehaglicher zumute. Alles, was ich zu wissen glaubte, war ins Wanken geraten. Meine wunderbare Suche verlor deutlich an Reiz, als ich diesem Mann gegenübersaß, der so gar nicht zu dem Bild in meinem Kopf passte. Schließlich beschloss ich, Klartext zu reden.
»Warum musstest du damals eigentlich so plötzlich gehen?« Über diese Frage grübelte ich seit Monaten nach, und wenn Mark mein hübscher Fremder war, war er der Einzige, der mir darauf eine Antwort geben konnte.
Seine Miene verdüsterte sich ein wenig: »Bin ich ja gar nicht.«
Hä? »Doch, du bist einfach verschwunden. Deshalb habe ich mich ja auf die Suche nach dir gemacht.«
»Ah …«
»Das soll kein Vorwurf sein. Ich meine, es war viel los, und du hattest wahrscheinlich noch eine Menge Einkäufe zu erledigen, immerhin stand Weihnachten vor der Tür und so …« Was brabbelte ich da nur für dummes Zeug? Also, so hatte ich mir dieses Treffen nicht vorgestellt. Ich fühlte mich, als säße ich im falschen Film.
»Äh, ja.« Bedächtig schenkte er sich eine zweite Tasse Kaffee ein.
Na toll! Ich langweilte ihn.
Trotzdem wollte ich es wissen. »Also, ähm … warum bist du gegangen?«
Er sah mich an. »Entschuldige, ich weiß wirklich nicht,
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