und das geheimnisvolle Erbe
Licht an und trat einen Schritt zur Seite, um mir den Vortritt zu lassen. Ich betrat eine Bibliothek, die genauso klein und genauso beeindruckend war wie Urgroß-
onkel Edmunds Observatorium, nur dass sie wesentlich gediegener wirkte.
»Die große Bibliothek ist unten«, sagte Bill, »das hier ist Vaters private Schatzkammer.«
Sprachlos überflog ich die Regale. Sie enthielten alles, was man von einer solchen Sammlung erwarten würde. Mein alter Chef in der Bibliothek, Stan Finderman, hätte sie rückhaltlos gebilligt, und ich tat es auch. Sie enthielt keine Ausstellungsstücke, sondern war mit viel Liebe und Sorgfalt zusam-mengetragen worden. Die Bücher befassten sich alle mit der Polarforschung: A Journey to the Shores of the Polar Sea – »Eine Reise zu den Ufern des Po-larmeeres« – von Franklin war genauso vertreten wie Ross’ A Voyage of Discovery – »Eine Entde-ckungsreise« – und viele weitere Bücher. Diese Werke waren ein kleines Vermögen wert, aber für einen Besitzer, der sie tatsächlich las und schätzte, waren sie unbezahlbar.
»Und jetzt der krönende Abschluss«, sagte Bill.
Er legte den Finger auf die Lippen und ging leise und auf Zehenspitzen zu einem Stück Wand zwischen zwei Bücherschränken. Mit theatralischer Geste, so als wäre er ein leicht überspannter Zauberer, schob er die Ärmel seines Hemdes hoch und drück-te dann mit beiden Händen gleichzeitig auf zwei Stellen der Wand, und Simsalabim – sie öffnete sich, um eine Treppe nach unten freizugeben.
»Ein so altes Haus wäre doch nichts ohne ein paar geheime Gänge, nicht wahr?«, meinte er lachend. »Dieser führt hinunter in das Umkleidezim-mer neben Vaters Büro. Damit haben Sie Ihren ganz privaten Zutritt zu allen Annehmlichkeiten, die dort zu finden sind. Sie können die Tür von innen verschließen und den Raum benutzen, wann immer Sie wollen. Nur – bitte, vergessen Sie nicht, wieder aufzuschließen, wenn Sie fertig sind.«
»Moment mal«, sagte ich, als er die Tür in der Wand wieder schloss. Ein furchtbarer Gedanke war mir gerade gekommen. »Wenn diese Büchersammlung Ihrem Vater gehört, und wenn diese Treppe hinunter in sein Büro führt, dann … oh, Bill, das sind doch nicht etwa seine Zimmer hier, oder? Er ist doch hoffentlich nicht wegen mir ausgezogen?«
»Überhaupt nicht, auch wenn ihm das nichts ausgemacht hätte, aber das war auch gar nicht nötig.
Das hier waren einmal seine Zimmer – er wohnte sozusagen über der Kanzlei –, doch jetzt wohnt er im Erdgeschoss. Wir sind nur noch nicht dazu gekommen, die Bücher umzuräumen.« Bills Blick schweifte über die Regale. »Es ist paradox. Alle diese Bücher beschäftigen sich mit dem Erobern der Wildnis, dabei darf er nicht einmal mehr in seinem eigenen Haus die Treppe hochsteigen.«
»Das darf er nicht?«
Bill sah mich an, dann wanderte sein Blick zurück zu den Büchern. »Es ist sein Herz«, sagte er. »Letztes Frühjahr fing es an, Schwierigkeiten zu machen.
Bisher gab es keine ernsthaften Komplikationen, aber … ich mache mir trotzdem Sorgen. Meine Mutter starb, als ich zwölf war, und abgesehen von ein paar vertrockneten Tanten haben wir ansonsten keine Familie.« Er berührte eines der Bücher. »Komisch, nicht wahr? Niemand bereitet einen darauf vor, dass man sich eines Tages um seine Eltern genauso sorgen wird, wie sie sich früher um uns gesorgt haben.«
Ich wandte die Augen ab, und alles in mir krampfte sich zusammen. Tatsache war nämlich, dass ich mir nie um meine Mutter Sorgen gemacht hatte. Sie war nicht einen Tag krank gewesen. Sie war nur ein einziges Mal im Krankenhaus gewesen – zu meiner Geburt. Bills Worte erinnerten mich daran, dass ich mich mehr um sie hätte kümmern müssen, und das hatte ich versäumt, genau wie ich so vieles andere auch versäumt hatte.
»Aber genug von diesem traurigen Thema.« Bill wandte sich von den Büchern ab. »Wie gesagt, es gibt keinen akuten Anlass zur Sorge. Vater könnte hundert Jahre alt werden, solange er sich schont.«
»Dann müssen Sie dafür sorgen, dass er es auch tut«, sagte ich. »Denn wenn er erst einmal nicht mehr da ist …« Ich brach ab und hoffte, dass Bill das Zittern in meiner Stimme nicht bemerkt hatte.
»Lori«, sagte er. Er berührte mich am Arm, doch ich zog ihn weg. Ich wollte und brauchte kein Mitleid, und ich war wütend, dass ich mir eine Blöße gegeben hatte.
»Frühstück ist um neun«, sagte er nach einer Pause. »Unten im kleinen Speisezimmer, Sie
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