und das geheimnisvolle Erbe
vorgekommen war.
Auch meine Mutter fand Reginald recht praktisch. Sie unterrichtete die dritte und vierte Klasse an einer Grundschule im Nordwesten von Chicago, wo wir damals wohnten, und wusste, wie nützlich Hilfsmittel manchmal sein konnten. Wenn ich, die Weltmeisterin im Trampolinspringen, zur Schla-fenszeit einfach nicht zur Ruhe kommen wollte, wandte sie sich einfach an Reginald auf ihrem Schoß. »Also, wenn Lori nicht zuhören will, dann erzähle ich dir eben die Geschichte, Reginald.« Nie verfehlte diese Bemerkung ihre Wirkung.
Meine Mutter wusste, dass ich Geschichten über alles liebte. Sie las mir die üblichen Kindergeschich-ten vor: Wie der Elefant seinen Rüssel bekam, Pu der Bär, Grimms Märchen und all die anderen klassischen Kinderbücher. Aber meine Lieblingsgeschichten (ebenso wie die von Reginald) waren diejenigen, die sie nicht vorlas, sondern mit ihrer Stimme, mit ihren Händen und ihren Augen erzählte.
Das waren die Geschichten von Tante Dimity. Sie waren die besten; sie erzählte sie, wenn sie mir eine besondere Freude machen wollte, und speziell an jenen Abenden, wenn sie mich auch durch intensives Rückenstreicheln nicht zum Einschlafen bringen konnte. Ich muss ein schrecklich ruheloses Kind gewesen sein, denn es gab unzählige Tante-Dimity-Geschichten: Tante Dimitys Cottage, Tante Dimity und ihr Garten, Tante Dimity kauft eine Taschenlampe. Besonders diese letzte Geschichte liebte ich über alles.
Wie schon die Titel vermuten ließen, waren Tante Dimitys Abenteuer weder großartig noch gefährlich. Sie alle spielten in einem unbekannten Zauber-land, wo gewöhnliche Dinge mitunter andere Namen hatten als bei uns und wo Tee eine Art Allheilmittel zu sein schien. Die Geschichten selbst waren jedoch eher alltäglich. Tante Dimity war die normalste Heldin, die mir je begegnet war, und auch ihre Abenteuer waren schrecklich normal.
Und dennoch bekam ich nie genug davon.
Eine meiner Lieblingsgeschichten war Tante Dimity geht in den Zoo. Ich wollte sie immer und immer wieder hören, bis ich sie selbst hätte erzählen können (was ich jedoch nie tat, denn gerade die Art, wie meine Mutter sie zum Besten gab, war ja einer der wichtigsten Bestandteile dieser Geschichten).
Die Geschichte fing an: »An einem wunderschönen Frühlingstag beschloss Tante Dimity, in den Zoo zu gehen. Die Osterglocken wiegten sich im Wind, die Sonnenstrahlen tanzten auf den blanken Fensterscheiben, und der Himmel war so blau wie ein Strauß Kornblumen. Und als Tante Dimity in den Zoo kam, entdeckte sie auch den Grund dafür: Hier nämlich hatte sich der Regen der ganzen Welt angesammelt und wartete auf sie. Er hatte sich zu einer großen, schwarzen Wolke zusammengeballt, die über dem Zoo schwebte und nur darauf lauerte, dass Tante Dimity durchs Tor trat.«
Aber ließ Tante Dimity sich davon abschrecken?
Niemals! Sie öffnete lediglich ihren großen, verlässlichen Regenschirm, trat dem schlimmsten aller Wolkenbrüche entschlossen entgegen – und fand es großartig. Sie hatte den großen Zoo ganz für sich allein und beobachtete, wie die Tiere mit dem Regen fertig wurden: wie einige sich zurückzogen, bis er wieder aufhörte, und andere nach Herzenslust badeten und herumplanschten und sich die Tropfen aus dem Fell schüttelten. »Als sie alles gesehen hatte, was sie sehen wollte«, fuhr meine Mutter fort,
»ging Tante Dimity nach Hause, wo sie sich am Kamin wärmte, ihr leckeres Butterbrot aß und ihren Tee trank. Und als sie an ihren herrlichen Tag im Zoo dachte, strahlte sie übers ganze Gesicht.«
Ich glaube, was mich an Tante Dimity so fesselte, war ihre Fähigkeit, den Unbilden des Lebens ein Schnippchen zu schlagen. Zum Beispiel die Geschichte Tante Dimity kauft eine Taschenlampe: Tante Dimity geht »ausgerechnet zu Harrod’s«, um eine Taschenlampe zu kaufen. Sie macht jedoch den Fehler, das Kaufhaus am letzten Wochenende vor Weihnachten aufzusuchen, als von oben bis unten ein Riesengedränge herrscht. Die meisten Verkäufer sind Aushilfskräfte, die ihr nicht einmal sagen könnten, wo die Taschenlampen sind, selbst wenn sie Zeit dazu hätten. Die haben sie aber nicht, weil der Andrang so groß ist, und so kommt Tante Dimity schließlich auch nicht dazu, eine Taschenlampe zu kaufen. Für jeden anderen wäre es ein irritie-rendes Erlebnis gewesen. Nicht aber für Tante Dimity. Für die war es nur ein weiteres Abenteuer, das mit jedem Stockwerk des Kaufhauses bunter und verrückter wurde. Und am Ende
Weitere Kostenlose Bücher