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und das geheimnisvolle Erbe

und das geheimnisvolle Erbe

Titel: und das geheimnisvolle Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Atherton
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sich um die Stuhllehne. »So war meine Mutter nicht.«
    Die Briefe waren noch vier Monate nach der ju-belnden Bekanntgabe meiner Geburt ohne Unterbrechung weitergeschrieben worden. Dann hörten sie plötzlich auf. Es gab noch eine kurze Benach-richtigung vom Tode meines Vaters, und das war es dann. Drei Jahre lang keine Weihnachtskarte, kein Geburtstagsgruß, keine Ansichtskarte von meiner Mutter. Als mir bewusst wurde, was da passiert war, las ich noch einmal ungläubig die kurze To-desnachricht.
    Fast hörte ich das Falltor herunterrasseln, fast sah ich, wie meine Mutter sich hinter ihrer Mauer aus Schmerz und Selbstmitleid verschanzte.
    Andererseits hatte Dimity nie aufgehört zu schreiben. Sie schrieb und schrieb, monatelang, ohne eine Antwort zu bekommen. Sie schrieb mindestens jede Woche ein Mal – nicht etwa kurze, schnell hinge-worfene Briefchen, sondern richtige Briefe: lange, lebhafte Berichte, die, so schien es mir, geschrieben worden waren, um meiner Mutter zu zeigen, dass sie nicht allein sei.
    Und wie erwiderte meine Mutter diese ununter-brochenen Freundschaftsbeweise? Mit Schweigen.
    »So war sie nicht«, beharrte ich. »Sie hat sich nicht verkrochen, wenn etwas schief ging. Sie war stark, sie hat sich immer den Herausforderungen gestellt.«
    »Dimity sagte, dass jeder auf seine Art hindurchgehen muss. Vielleicht musste deine Mutter es allein tun.«
    »Aber trotzdem macht es keinen Sinn. Sie musste doch nicht allein hindurchgehen. Sie hielt nichts davon, etwas allein durchzumachen. Sie …« Ich vermisste sie in diesem Moment so sehr, dass es fast körperlich schmerzte. Ich sah hinaus in die Dunkelheit und suchte nach Worten, mit denen ich es Bill begreiflich machen konnte. »Sie war Lehrerin, und zwar eine von denen, deren Tür immer offen steht.
    Ihre Schüler kamen sie immer wieder besuchen, egal, wie alt sie inzwischen waren. Du hättest ihre Beerdigung erleben sollen – die Kirche war kaum groß genug für alle, und der Reihe nach erhoben sie sich und erzählten davon, dass sie ohne Mutter heute nicht da wären, wo sie sind.« Ein schwacher Fliederduft rief mir jenen Tag wieder ins Gedächtnis. »Und weißt du, was sie alle hervorhoben? Dass sie immer mit ihren Problemen zu ihr kommen konnten und dass sie zuhörte , richtig zuhörte, mit weit offenem Herzen. Wenn jemand wusste, wie wichtig es ist, jemanden zu erreichen, dann war es meine Mutter. Also, kannst du mir jetzt sagen, warum sie während der drei schlimmsten Jahre ihres Lebens nicht …« Der Kloß in meinem Hals ließ mich nicht weiterreden, ich musste erst ein paar Mal schlucken, ehe ich fortfahren konnte. »Und was war mit Dimity, die in all den Jahren auf dem Trockenen saß?«
    »Ich glaube, Dimity muss es verstanden haben«, sagte Bill.
    »Also, ich verstehe es nicht«, sagte ich. »Wenn ich mir vorstelle, wie meine Mutter da ganz allein mit einem schreienden Baby saß und ihr die Mahn-briefe ins Haus geflattert kamen … Für sie gab es kein Starling House, aber sie hätte doch Dimity um Hilfe bitten können.« Ich rieb mir die Stirn. »Gott, davon hatte ich keine Ahnung.«
    »Lori«, sagte Bill, »es ist spät, und es ist heute so viel auf dich eingestürmt. Warum gehst du nicht zu Bett? Lass uns morgen, wenn wir wieder frisch und ausgeruht sind, weiterlesen.«
    »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt weiterlesen will.«
    »Dann lese ich für dich weiter«, sagte Bill beruhigend. »Aber jetzt musst du erst mal zur Ruhe kommen, okay? Also, bis morgen.«
    Ich war zu müde, um zu protestieren, aber nichtsdestotrotz lag ich noch lange wach. Ich hatte mich in Megs Decke gekuschelt und lauschte dem Wind, der klagend über das regennasse Schieferdach heulte. Das Schweigen meiner Mutter verfolg-te mich. Ich fürchtete mich vor der Vorstellung, wie groß der Schmerz gewesen sein musste, der eine solche Reaktion ausgelöst hatte. Diese Briefe hatten mich mit einer Welt des Schmerzes bekannt gemacht, die ich nicht bereit war, zu ertragen.

16
    Als ich am nächsten Morgen im Wohn-
    zimmer aus dem Fenster sah, kam mir der Verdacht, dass irgendein einheimischer Druide etwas gegen mich hatte und für Dauerregen sorgte, damit ich wieder abreisen würde. Das Wetter war nicht gerade viel versprechend. Der Sturm hatte die ganze Nacht ohne Unterbrechung getobt, und es sah ganz danach aus, als würde es bis zum nächsten Jahr so bleiben. Normalerweise mochte ich Regen sogar, aber diese endlosen, kalten, windgepeitschten Was-sermassen würden meinen

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