und das geheimnisvolle Erbe
aber ich dachte, Nell hätte sie ihr zurückgegeben.« Sie sah in den Flur hinaus. »Lassen Sie mich noch mal nachsehen.« Ham sprang vor uns her, als wir nach oben in ein Zimmer gingen, das ich für ein Schlafzimmer hielt. Ich zögerte, doch Emma meinte beruhigend: »Keine Angst, wir dringen nicht in die Privatsphäre meiner Tochter ein. Dies ist das Arbeitszimmer der Kinder.«
In deutlichem Gegensatz zum Wohnzimmer war dieser Raum sparsam möbliert und ordentlich aufgeräumt. An den Wänden reihten sich volle Bücherregale, Hängeschränke und zwei Schreibtische. »Ich bin froh, dass die Kinder die Schule sehr ernst nehmen. Sie verwüsten zwar regelmäßig den Rest des Hauses, aber dieses Zimmer halten sie in Ordnung.
Die linke Seite gehört Nell.« Emma ließ den Blick über die Bücherborde auf dieser Seite schweifen, während ich in den Schubladen nachsah. Es dauerte keine fünf Minuten, bis Emma fündig wurde.
»Ist es das?« Sie reichte mir ein braunledernes Fotoalbum mit der Beschriftung 1939–1944.
Viel zu aufgeregt, um zu sprechen, nickte ich. Ich legte das Album auf Neils Schreibtisch und öffnete es, um es rasch durchzublättern. Auf jeder Seite waren drei oder vier Bilder mit schwarzen Foto-ecken befestigt. Unter jedes Bild hatte Dimity kurze Unterschriften gesetzt: Namen, Daten, Ortsbe-zeichnungen. Ich blätterte die Seiten durch und ließ Fotos Revue passieren, auf denen Dimity allein oder inmitten einer Gruppe von jungen Frauen in Uniform zu sehen war, und hielt jedes Mal kurz den Atem an, wenn ich das junge Gesicht meiner Mutter darunter entdeckte. Dann war das Album zu Ende.
»Verdammt«, murmelte ich, »es fehlt nichts.«
»Was meinen Sie?«
»Wenn das Bild von Pouters Hill aus diesem Album wäre, dann müsste irgendwo eine leere Stelle sein. Aber es gibt keine.«
»Ach so.« Emma saß auf der Schreibtischkante und hatte die Arme verschränkt. »Wie schade.«
»Nein, Moment mal. Vielleicht bin ich nur wieder zu voreilig.« Ich setzte mich auf Neils Stuhl, knipste die Schreibtischlampe an und blätterte das Album noch einmal langsam durch, wobei ich jede Seite ganz öffnete. »Ich habe früher mit bibliophi-len Büchern gearbeitet und dabei gelernt, auf Zeichen von Vandalismus zu achten – genau genommen muss man es Diebstahl nennen. Es besteht nämlich eine große Nachfrage nach alten Holz-schnitten und Stichen.«
»Wie die botanischen Illustrationen, die man manchmal in Antiquitätenhandlungen sieht?«, fragte Emma.
»Richtig. Manche stammen aus Büchern, die zu schadhaft sind, als dass man sie noch retten könnte, aber oftmals …« Ich blätterte gerade das fünfte Blatt um, fuhr mit dem Daumen über den Falz, um die Seiten flach auseinander zu drücken, und hielt inne.
»Oft werden die Seiten mit Rasierklingen aus völlig intakten Bänden herausgeschnitten. So wie hier.«
Emma beugte sich herunter, um besser sehen zu können, während ich den Daumen an einer gezack-ten Linie entlanglaufen ließ. Das war alles, was von zwölf schwarzen Albumseiten übrig geblieben war.
»Es ist doch nicht etwa möglich …«, fing ich an, aber Emma schüttelte nachdrücklich den Kopf.
»Nein. Nell hat das nicht getan. Niemals würde sie so etwas tun.«
Ich seufzte, schloss das Album und nahm es mit nach unten in die Küche, wo Reginald mich mitlei-dig ansah. Emma musterte noch einmal das Foto mit der alten Eiche.
»Es gibt noch eine Hoffnung«, sagte ich zaghaft.
»Vielleicht findet Bills Vater die fehlenden Seiten.«
»Ich frage mich, wer Ihrer Mutter dieses Bild gegeben hat«, überlegte Emma. »Das Ehepaar, von dem wir dieses Haus gekauft haben, ist vor einigen Jahren gestorben, und ich kenne sonst kein anderes Ehepaar hier … Könnte ich bitte die Beschreibung Ihrer Mutter einmal lesen?«
Ich hatte ihr davon erzählt. Jetzt holte ich den Brief hervor und gab ihn ihr. Sie las mit großer Aufmerksamkeit.
»Aber hier steht ja gar nichts von einem Ehepaar«, sagte sie wie zu sich selbst. »Nur von ›zwei Nachbarn von Dimity‹ ist die Rede, ›ältere Leute … nicht sehr klar …‹« Plötzlich sah sie mich mit leuchtenden Augen an. »Ich glaube, ich weiß, wen Sie suchen.«
17
»Die Schwestern Pym?«, rief ich aus. »Die Socken strickenden Schwestern Pym? Gibt es die etwa noch?«
»Und wie!«, erwiderte Emma. »Munter und quietschfidel – auf schickliche Art und Weise natürlich.« Sie erzählte, dass Ruth und Louise Pym die eineiigen Zwillingstöchter eines Landpfarrers
Weitere Kostenlose Bücher