und das geheimnisvolle Erbe
Es mag sogar eine Erklärung dafür sein, warum sie nie geheiratet hat. Aber warum sollte sie die Fotos vernichtet haben? Wenn sie ihn geliebt hat, warum hätte sie dann die Erinnerung an ihn auslöschen wollen?«
Ich fuhr mit der Hand an einer der knorrigen Wurzeln entlang, noch immer erfüllt von einer Trauer, die meine und doch nicht meine war.
»Manchmal schmerzt es, sich zu erinnern.«
Bill ließ meine Worte einen Augenblick in der Luft hängen. »Aber es schmerzt noch mehr, zu vergessen. Weil es einem doch nie völlig gelingt, nicht wahr?«
»Nein«, sagte ich leise. »Vermutlich nicht.«
»Dimity konnte es nicht. Wenn wir mit unserer Vermutung richtig liegen, dann hat sie vielleicht zu vergessen versucht, aber …«, er hob den Blick zu dem in den Baum geschnitzten Herz, »… RM hat sie nicht in Ruhe gelassen. Und sie ist immer noch nicht darüber hinweg, es schmerzt sie sogar jetzt noch … Es muss etwas geben, wofür sie Vergebung sucht. Ich verstehe bloß nicht, warum ihr für den Tod eines Menschen vergeben werden muss, den sie geliebt hat.«
»Ich schon«, sagte ich so leise, dass Bill sich he-rüberbeugte, um es zu verstehen. »Manchmal hat man nach dem Tod eines Menschen Schuldgefühle.«
»Weswegen?«
»Wegen … aus allen möglichen Gründen. Aufgrund von Dingen, die man getan oder nicht getan hat.«
»Wie zum Beispiel einen völlig unschuldigen Menschen zu verdächtigen, dass er es spuken lässt?«, neckte Bill.
»So ähnlich.« Ich sah ihn kurz an und lächelte, dann pflückte ich einen Grashalm und wickelte ihn um den Finger. »Meine Mutter machte das auch immer – wenn ich in trüber Stimmung war, sagte sie etwas Komisches.«
»Ja?«
»Sie hat mich dauernd geneckt, genau wie du. Ich habe mich bei ihr auch manchmal ziemlich unmöglich benommen.«
»Das kann ich kaum glauben.«
»Es stimmt aber. Sie hat zwar nie etwas gesagt, aber …« Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich die Tochter geworden bin, die sie sich vorgestellt hatte.«
»Was glaubst du denn, was sie sich vorgestellt hat?«
»Zunächst mal jemand, der nicht so dämlich ist, sich ausgerechnet alte Bücher als Broterwerb auszu-suchen.« Ich fing an, meinen Grashalm zu zerpflü-
cken. »Dann jemand, der seine Ehe zusammenhalten kann. Jemand, der nicht so verdammt stur ist. Aber so bin ich nun mal immer gewesen. Darum …«
»Darum was?«, hakte Bill nach.
»Ach, nichts.« Ich streute die Grasschnipsel in den Wind. »Wir sollten ja eigentlich über Dimity reden.«
»Zu Dimity kommen wir gleich zurück. Im Moment reden wir über etwas anderes. Also, darum was, Lori?«
»Deshalb …« Der Wind hatte sich gelegt, und es bewegte sich kein Blatt. Es war, als hätte der alte Baum den Atem angehalten und wartete, dass ich weitersprach. »Sie bat mich, heimzukommen, Bill.
Sie flehte mich an. Aber ich war zu dickköpfig, zu stolz, es ging mir zu sehr darum zu beweisen …
ach, ich weiß auch nicht, was. Und deshalb war ich nicht bei ihr, als …«
Bill legte die Arme um mich und zog mich an sich.
Er hielt mich fest, streichelte mir übers Haar, dann sagte er leise, so leise, dass ich es kaum hören konnte:
»Wollte deine Mutter, dass du wegen ihr nach Hause kommst, oder wollte sie es deinetwegen?« Sofort fuhr ich hoch, aber er hielt mich noch fester und wartete, bis ich mich wieder entspannt hatte, ehe er hinzufüg-te: »Du hättest nicht aufhören sollen, die Briefe zu lesen. Sonst hättest du etwas Wichtiges erfahren.«
Seine Finger strichen vorsichtig über meine Wange.
»Du hast nämlich nicht nur den Mund von deiner Mutter. Du hast auch ihr Kinn, und zwar ein ziemlich energisches Kinn. So hat deine Mutter es jedenfalls beschrieben. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie jemals das Wort ›stur‹ gebraucht hat. ›Genauso willensstark wie ich‹, so hat sie es ausgedrückt.«
Ich schüttelte den Kopf, aber Bill ließ sich nicht beirren. »Glaubst du denn, deine Mutter sei zum Militär gegangen, weil sie sich davon eine tolle Karriere versprach? Denkst du, sie hat sich hingesetzt und erst lange das Für und Wider erwogen? Bestimmt nicht, Lori. Sie sah den Krieg als ein großes, romantisches Abenteuer, und die gleiche romantische Ader hat sie in dir erkannt. Warum solltest du wohl sonst etwas so Unpraktisches wie alte Bücher zu deinem Beruf machen? Deswegen hielt sie dich aber keineswegs für dumm. Sie hätte dich in allem unterstützt, solange du deinem Herzen gefolgt wärst. Das weißt du doch
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