Und das Glück ist anderswo
sie sich im Recht glaubte und ihre Forderungen stellte. Seitdem war eine Logik hinzugekommen, der mit einer durchschnittlichen rhetorischen Begabung nicht beizukommen war.
»Mami, du machst dich doch lächerlich«, räsonnierte diese Stimme bei Tag und bei Nacht, »in deinem Alter. Du glaubst gar nicht, wie schnell du siebzig wirst.« Marthas kluge Tochter hatte ihr Lebtag nicht das Bedürfnis gehabt, andere Menschen mit Charme und Rücksicht zu verwöhnen. »Sie ist«, gestand Martha am Tag, als Samy zum ersten Mal ihren berühmten Zimtkuchen mit in Rum getränkten Rosinen probierte, »ein gutes Kind, aber von Toleranz hat sie leider nie viel gehalten.«
»Umgekehrt«, tröstete er, »wäre auch kein Vergnügen. Bei schlechten Menschen hilft auch Toleranz nicht.«
Auch vor Rose’ feixenden Grimassen, ihrer hochfahrenden Art und vor ihrer Überheblichkeit fürchtete sich Martha, als wären die Sünden der Jugend tatsächlich eine Bedrohung für die Alten. »Nur David«, prophezeite die unglückliche Großmutter, »wird mich verstehen. Der Junge ist die Güte in Person. Das Abbild seines Vaters.«
»Hab ich von meinem Sohn auch immer gedacht«, seufzte Samy.
Trotz ihrer Befürchtungen und der Verlegenheit, die sie beutelte, sobald sie an ihre Familie dachte, jubelte Marthas Herz. Ihr machte es von Tag zu Tag mehr Freude, für Samy zu sorgen, für seinen Magen und sein Gemüt, für die Katze, das Haus und für die wunderschöne Passionsblume auf der Fensterbank, die noch Miriam Bronstein aus Kernen gezogen hatte. In einem Zeitraum von nur einem Monat hatte sich Martha an einen äußerst befriedigenden, befreienden Zustand gewöhnt. Jeden Morgen stand Samy, meistens in einer dunkelgrünen Jacke, an der Hecke seines winzigen Gartens und hielt nach ihr Ausschau. Dieser Kavalier einer untergegangenen Zeit war ein Mann, der nicht nur zufrieden in den Suppenteller grunzte, wenn es die fette Rinderbrühe mit den fettfreien Knödeln seiner Jugend gab. Er war ein Ritter, der Komplimente bündelte wie ein Gärtner Rosen. Ohne äußeren Anlass sagte er »Rot steht dir besonders gut, Martha« oder »... dass ich so alt werden musste, um eine Frau kennen zu lernen, die morgens gute Laune hat, ist das wahre Glück!«. Derartige Schmeicheleien hatte sie noch nicht einmal in der Blüte ihres Lebens zu hören bekommen. Bäckermeister Freund hatte seine gesamte Phantasie in die Entwicklung neuer Plätzchenrezepte investiert. Zum ersten Mal seit dem Tag, da ihr Mann im Morgengrauen von Londiani zusammengebrochen war und seine Witwe danach im Familienverband immer mehr geduldet als anerkannt wurde, war Marthas Seele wieder stark. Wenn sie in den Spiegel blickte, sah sie eine Frau von Erwartung und nicht die grauhaarige Granny Gram Gramps, die Englisch mit einem entsetzlichen deutschen Akzent radebrechte, aber zu Geburtstagen »die beste Schokoladentorte der Welt« auf den Tisch brachte und sich diskret zurückzog, wenn die Gäste nicht zu ihrer Generation gehörten. Anders als diese von ihrer Familie mit dem Augenzwinkern der Wohlwollenden behandelte Großmutter brauchte die neue Martha nicht geduldig abzuwarten, ehe sie von ihren Lebensstationen erzählen durfte.
So trug Frauenstolz den größten Anteil an Marthas Entschluss, dem Entsetzen ihrer Familie die Stirn zu bieten und von ihrem neuen Leben mit Samy Bronstein zu berichten. Nun da sich beide einig waren, sich weder um die Konvention noch das Protestgeheul ihrer Kinder zu scheren, machte Samy keinen Hehl aus dem Umstand, dass er am Abend seines Lebens wahrlich nicht auf der Suche nach einer Haushälterin gewesen war, die unter dem Teppich nach Krümeln fahndete und Herrensocken mit dem passenden Faden stopfte. Es war eine Gefährtin, die er an seiner Seite wissen wollte, eine Frau, die ihn fühlen ließ, dass er noch lebte.
»Ich meine, wir können uns doch beide gegenseitig ein bisschen Mut machen«, formulierte der Bedachtsame. »In unserem Alter ist das wichtig. Für alte Leute gehört ja schon eine Portion Mut dazu, vom Wetter in der nächsten Woche zu sprechen, ohne dass sie >so Gott will< sagen.« »Aber du bist doch mutig, mein Lieber. Das fiel mir als Erstes an dir auf, dein Mut und deine Kraft.«
»Siehst du, Martha, genau das habe ich gemeint. Glaubst du, meine Kinder hätten je so etwas zu mir gesagt? Oder mein ehemaliger Chef, für den ich Sonntag für Sonntag in den Betrieb lief, um die Post durchzusehen. Ich treffe ihn noch oft in der Wäscherei mit den
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