Und das Glück ist anderswo
sie sich bestimmt nicht leisten kann. Wenigstens fragen hättet ihr können, warum sie nicht den ganzen Tag hier zu Hause sitzen will. Sorry, Master David. Du bist genauso ein mieser Egoist wie deine Schwester. Am besten du besprichst das mal mit Rabbi White. Vielleicht bringt der dir bei, dass es völlig unerheblich ist, ob du noch einmal am Freitagabend deine geliebten Karotten mit Rosinen bekommst oder nicht. Übrigens habe ich auch das Rezept.«
Liesel stand auf. Mit einem Klaps, der nicht ohne Zärtlichkeit war, entfernte sie die noch immer heulende Rose von Marthas Schoß. Sie streichelte, ein wenig abwesend, die mütterliche Stirn. Eigentlich wollte sie Martha vorschlagen, in Ruhe zu erzählen, was für eine Arbeit sie gefunden hatte und bei wem, doch Erinnerungen, lange verschüttet und nie vergessen, ließen Mutter und Tochter nicht zum klärenden Wort kommen. Beide dachten sie, im gleichen Augenblick, mit gleicher Sehnsucht und Innigkeit, an die Tage von Mombasa. Siebzehn Jahre war das nun her. Martha war damals unterwegs zu ihrem Bruder nach Montevideo gewesen, Liesel noch nicht entschlossen, Kenia für immer zu verlassen und in London zu leben. Das Licht, in Mombasa so weiß wie nirgendwo sonst, erhellte noch immer die Szene. Auf der Terrasse eines feinen Hotels hatte Martha in den ersten Gurkensandwich ihres Lebens gebissen und Liesel aus einem hohen Glas getrunken. Orangensaft mit Eiswürfeln und Standesbewusstsein. Dabei hatten Mutter und Tochter, denen das Leben die Gnade verwehrt hatte, zu sagen, was sie füreinander empfanden, sich gefunden. Schweigend und doch für immer. »Danke«, flüsterte Martha.
»Wofür? Dass ich dich vor meiner garstigen Brut schützen muss. Das ist doch meine Pflicht als Tochter.«
»Ich hab von Mombasa gesprochen.«
»Ich auch.«
Morgens um sieben
London, Herbst 1970
»Das nenne ich Organisationstalent«, sagte Emil. »Und genaues Timing. Bestimmt hätte ich mir damit noch Wochen, wenn nicht Monate Zeit gelassen. Und dann wäre ich höchstwahrscheinlich zum Ergebnis gekommen, dass die ausgedienten Stundenpläne von erwachsenen Kindern ein Stück Erinnerung für melancholische Eltern sind und nicht vernichtet werden dürfen. Nie, nie, nie.«
»Ich bin nicht melancholisch. Nur praktisch. Ich will die Türen vom Küchenschrank frei machen für die vielen neuen Rezepte, die seit einiger Zeit hier eintreffen. Samy hebt sie für mich aus den Magazinen für feine Lebensart auf. Sein Zahnarzt hat das Zeug im Wartezimmer herumliegen, und ich mag meine Mutter nicht enttäuschen. Sie findet es süß, dass Samy zu jeder Zahnbehandlung eine kleine Schere mitnimmt. Ich wollte, er hätte endlich seine neue Prothese. Allmählich gehen mir nämlich die Adjektive aus, um ihn und die Rezepte für Soufflés und Trüffelsaucen zu bewundern.«
»Mir nicht«, überlegte Emil. »Mir fällt immer etwas ein, wenn ich an dich denke. Mrs Procter ist nach all den Jahren noch für Überraschungen gut. Wie machst du das bloß? Ich bin so berechenbar geworden wie Big Ben. Ding, Dong, Ding.«
Er nahm seiner Frau die Rasierklinge aus der Hand, mit der sie seit einer Stunde das Küchenbüfett von den Resten britischen Schullebens zu befreien versuchte, klopfte ihr so fest auf die Schulter, dass sie ins Wanken geriet und mit dem Kopf fast gegen die Hängelampe gestoßen wäre, und blies einen Kuss in die Luft. Der streifte zwar nur ihre Stirn, aber sie lächelte ihren Mann an, obwohl sie sicher war, dass er sie nur für ihre Tüchtigkeit und das gute Herz loben wollte, das sie nach Übereinstimmung von allen, die sie zu kennen wähnten, »nicht auf der Zunge trug«.
An ihrem achtunddreißigsten Geburtstag vor vier Wochen waren weder die guten Freunde noch die Bekannten, die sich uneingeladen zu Marthas Tortenparade eingefunden hatten, es leid geworden, in banalen kleinen Elogen Lie-sels beherzte Art zu erwähnen und wie sie das »Leben mit Mut und jugendlichem Schwung bewältigte«. Konkret war die Rede vom Haushalt gewesen, von den fast flüggen Kindern und der doppelten Buchführung in Emils neuer, immer besser florierender Importfirma für Textilien aus Europa. Neuerdings war für Liesel eine Halbtagsstellung hinzugekommen. Sie arbeitete in der Finchley Road in der Berufsberatung für Jugendliche ohne Schulabschluss. Seit einigen Monaten wurde die von der Jüdischen Gemeinde angeboten.
Liesel, die sich zu ihrem Geburtstag eine neue Frisur, eine umfassende Behandlung bei einer rumänischen
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