Und das Glück ist anderswo
Arg und Anlass war das gewesen, ein Spiel mit Gedanken und Empfindungen, das gewohnte Geplänkel zwischen einem klugen Vater und einem Sohn, der noch nicht gewillt und längst noch nicht fähig war, über den Zaun zu schauen, der das üppig wuchernde Feld der Vorurteile umgibt. Fast fünf Jahre war das nun her, die zufällige Diskussion in der Erinnerung so federleicht, dass noch nicht einmal ein Dorn im Fleisch zurückblieb, geschweige denn ein Stachel, der auf immer schmerzen sollte. Fünf harmonische, gesegnete Jahre lang zeigten sich nur solche Wolken am Himmel, die sich rechtzeitig auflösten, um den Schlaf nicht zu beschweren. Kein Wetterleuchten drohte am Horizont. Noch Lichtjahre entfernt war der erste Donnerton.
Geblitzt hat es dann ohne Vorwarnung. Die Sturmflut setzte an einem Donnerstag im November ein, der einer wie jeder andere vor ihm hatte werden sollen, ein unauffälliges Bindeglied zwischen Mittwoch und Freitag. Für diesen Tag der Durchschnittlichkeit waren keine besonderen Vorkommnisse in den Kalendern der Familie Procter vermerkt. Liesel hatte in ihr winziges Notizbuch »Arbeitsbeginn bei der Berufsberatung neun Uhr« geschrieben, Martha »mit Mieze zum Tierarzt, zweite Impfung« notiert. In der Geheimschrift seiner Kindertage, damit die Überraschung nicht vorzeitig publik wurde, hatte Samy aufgezeichnet »Geschenk für M. zu unserem Jahrestag kaufen. Ring?«. Emil und David, die beide die Angewohnheit hatten, ihre Jahresbegleiter als Chronik herauszuputzen und Eintragungen für möglichst viele Stunden zu machen, hatten für den schicksalhaften Donnerstag wenig geplant - Emil einen Geschäftslunch mit einem belgischen Importeur für gestickte Blusen, David ein erstes Gespräch mit einem Zwölfjährigen, den er unter Leitung von Rabbi White auf die Barmitzwa vorbereiten sollte.
Ob Rose für den schwarzen Donnerstag, der mit einem Flammenschwert Familiengeschichte schrieb, irgendwelche schriftlichen Aufzeichnungen gemacht hatte, war im Nachhinein weder feststellbar noch von Belang. Kalender und Notizbücher, selbst anspruchslose kleine Merkzettel waren ihr ein Graus. Sie ließ sich schon als kleines Mädchen lieber ohne einen Zettel zum Einkaufen schicken und vergaß die Hälfte, als dass sie mit einer Auflistung der mütterlichen Wünsche loszog und bei der Heimkehr für ihre aufmerksame Pflichterfüllung gelobt wurde. Und doch hing ausgerechnet in ihrem Zimmer der größte Wandkalender im Haus.
Der Kalender präsentierte in einem sehr guten Druck die beliebten Bilder der Zeichnerin Beatrix Potter. Auf fast jedem Blatt war Peter Rabbit zu sehen, der Liebling aller englischen Kinder. Den ersten Jahresbegleiter mit diesem pfiffigen Hasen in seiner himmelblauen Jacke und mit einer Karotte in der Rechten hatte Rose zu ihrem siebten Geburtstag von ihrer Großmutter bekommen. Seitdem kaufte ihn Martha alljährlich, und jedes Jahr an ihrem Geburtstag sagte Rose beim Auspacken: »Aber Granny, das geht doch nicht, ich bin doch kein Kind mehr.« Dann rieb sie mit der Hand ihre Augen trocken, und ihre Großmutter war ebenso gerührt und steckte der schniefenden Enkelin lächelnd ein Taschentuch zu.
Als Peter Rabbit und seine Freundin ins Nirgendwo abtauchten, führte zum Auftakt der Zufall Regie. Rose hatte mit dem Eklat, dessen Schlagkraft sie genau kalkuliert hatte, frühestens in den Mittagsstunden gerechnet und ihr Gewissen mit dem Trost besänftigt, dass dann ihre Mutter nicht allein zu Hause sein würde. Seitdem Rose nicht mehr um halb sieben Uhr morgens für die Schule aufstehen musste, hatte diese verständnisvolle Mutter aus gutem Grund mit der freundlichen Tradition gebrochen, der jammernd gähnenden Tochter den ungeliebten Übergang von der Freiheit zur Pflicht auf schamlos verwöhnende Weise zu erleichtern. Fünf Tage in der Woche hatte Liesel an Rose’ Bett ein Lächeln, eine Tasse Tee und zwei Ingwerkekse serviert, am sechsten Tag einen happigen Vorgriff auf Marthas Wochenendkuchen. In ihrem neuen, dem Erwachsenenleben stand Rose jedoch meistens so spät auf, dass bei ihrem Ersterscheinen im Familienkreis das Frühstücksgeschirr schon abgewaschen und zurück im Schrank war, und zu diesem Zeitpunkt erschienen Liesel weder Tee noch
Ingwerkeks geeignet, um ihre apathische Tochter aus den Klauen von Lebensüberdruss und Ekel zu befreien.
Wäre nicht um acht Uhr und elf Minuten ein für die Jahreszeit atypisch starker Wind aufgekommen, und hätte seinetwegen nicht ein Fenster geklappert,
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