Und das Glück ist anderswo
Von da an ließ sich Rabbi Myers bei vielen Gelegenheiten anmerken, wie wohl er dem gescheiten jungen Mann gesinnt war. Sobald er David sah, wurde sein Gesicht hell. Wenn er Zeit hatte, setzte er sich nach Beendigung von Simons Lernstunde zu ihm. Seinen Sohn schickte er mit einem kleinen Auftrag aus dem Zimmer, wobei er stets darauf achtete, dem Jungen seinen Stolz und seine Würde zu belassen. Die Männer, der junge, der ins Leben drängte und den Weg nicht kannte, und der Vater, der sich in Acht nehmen musste, damit die Enttäuschung mit den Söhnen sein Gesicht nicht zeichnete, tranken eine Tasse Tee. Sie aßen ein Stück quittegelben, mit einem schweren Mandellikör aus Israel getränkten Kuchen, der die Zunge geschmeidig machte und die Ohren empfänglich für die Botschaft, dass ein jeder vom anderen zu lernen imstande ist. Der eine sprach von der Welt, wie sie ein Mann sah, der sie nur aus einer Perspektive kannte, und der andere hörte zu und wünschte sich, er hätte den Schritt, den er tun wollte und tun musste, schon getan. Häufig, wenn David sich von Rabbi Myers verabschiedete, bemerkte er in dessen Augen ein Feuer. Es erwärmte ihn, obwohl er es nicht zu deuten wusste. Der fromme Diener des Allmächtigen wusste indes Bescheid. So einen Sohn, wie David für seinen Vater und dem Vater allen Lebens war, hatte er sich immer gewünscht. Und er wünschte ihn sich noch, obwohl er fürchtete, dass der Leib seiner Frau nach dem sechsten Kind nicht mehr gesegnet werden würde.
In der Weihnachtszeit, in der Rabbi Myers seine Kinder nicht gern aus dem Haus ließ, damit sie nicht von den Lichterbäumen und dem falschen Sternenglanz in den Kaufhäusern geblendet wurden und Sehnsüchte entwickelten, die ein jüdisches Kind nicht zu entwickeln hat, lernte David den kleinen Benjamin kennen. Er war das jüngste der sechs Geschwister; wenn die Dinge so liefen, wie der Vater sie ersehnte, würde David in fünf Jahren auch Benjamin mit den Lernvorbereitungen zu seiner Barmitzwa helfen. Benjamin war acht Jahre alt, körperlich gut entwickelt und sehr geschickt mit seinen Händen. Er konnte besser als seine Schwestern stricken und machte für die Mutter kleine Reparaturen im Haus. Leider zeichnete es sich aber bereits ab, dass für ihn das Lernen eine noch größere Last als für Simon werden würde. Jeden Jom Kippur mussten die Eltern Benjamin erklären, dass Kinder noch nicht fasten dürfen, und jeden Freitagabend fragte der Junge aufs Neue, weshalb die Mutter und nicht der Vater die Sabbatkerzen anzündete und warum er nicht, wie an allen anderen Tagen, den Lichtschalter bedienen durfte. Zu Pessach aber, wenn das jüngste Kind der Tischgemeinschaft seit alters vier Fragen zu stellen hat und seit Jahrtausenden immer die gleiche Antwort bekommt, konnte er sich immer nur die erste Frage merken. Die hebräischen Buchstaben, die Miriam und ihre Schwester bereits als Vierjährige unterscheiden konnten, verwechselte er. Schon im Januar bekam David den Auftrag, mit Benjamin alle vier Fragen für Pessach einzuüben.
»Wir haben Zeit bis April«, ermunterte David das Kind. »Wer ist April?«, fragte Benjamin.
Vor drei Monaten und zwei Wochen war es zu der ersten Begegnung mit der ältesten Tochter von Rabbi Myers gekommen. War es nur Zufall, oder steuerte da bereits ein Weitsichtiger mit geschickter Hand die Zukunft? Jene, die es betraf, würden es nie erfahren. Miriam war, von der Mutter beauftragt, mit einem Glas Wasser und einer Tablette für den Bruder, den ein schmerzhafter Husten plagte, ins Zimmer gekommen. Für die Dauer eines Wimpernschlages hatte sie den jungen Lehrer angelächelt, der zu ihrem Erstaunen absolut nicht so wirkte, als würde es ihn anstrengen oder gar seinen Geist beleidigen, sich mit dem schwerfälligen Simon abzumühen. Sie beneidete David um die Geduld und den Optimismus, die sie ihren Vater schon oft hatte mit Bewunderung erwähnen hören. Ihr fehlten zu schnell Hoffnung und Ausdauer, wenn sie merkte, wie rasch ihre rührend eifrigen Brüder, die nur selten von der Mutter ermutigt und sehr viel öfter als ihre Schwestern vom Vater gescholten wurden, vor verschlossenen Türen standen.
Miriam schaute Simon an - und stutzte. Sie musste sich zwingen, nur zu beobachten und zu denken und nichts zu sagen. Der Bruder sah so zufrieden aus, wie seine Schwester ihn nur sah, wenn die beiden Schwestern ihrer Mutter zu Besuch kamen. Bei jedem Besuch machten die Tanten sich die Mühe, Simon zu beachten und Fragen zu
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