Und das Leben geht doch weiter
Klasse fragte, gab es nur eine Antwort: die Burghardt.
Frau Dr. Petersen hätte nie gedacht, daß ihr an diesem Tag ausgerechnet Carola Burghard einen ungeahnten, unglaublichen, nicht zu fassenden Kummer machen würde. Es kam nicht oft vor, daß die Lehrerin von einer ihrer Schülerinnen privat aufgesucht wurde, und gerade Carola hatte das bisher noch nie getan. Frau Dr. Petersen war deshalb ziemlich überrascht, als es läutete und sie die Reederstochter vor ihrer Tür stehen sah.
»Carola?«
»Darf ich reinkommen?«
»Natürlich.«
Im Studierzimmer, wohin die Lehrerin das Mädchen führte, sagte sie, nachdem sie Platz genommen hatten: »Sie sehen nicht gut aus, Carola, seit einiger Zeit schon nicht mehr. Was ist los mit Ihnen? Lernen Sie zuviel?«
»Nein.«
Frau Dr. Petersen glaubte, einen kleinen Scherz anbringen zu können, mit dem sie jedoch eine Katastrophe auslöste.
»Haben Sie Liebeskummer?«
Und schon saß nur noch ein Häufchen Elend vor ihr. Carola schossen die Tränen in die Augen, und sie weinte bitterlich.
»Carola«, stammelte die Lehrerin hilflos, »verzeihen Sie … ich wußte ja nicht … ist es denn so schlimm?«
Carola weinte.
Der nächste Gedanke der Lehrerin war typisch.
»Ist er verheiratet?«
»Nein.«
»Woran hapert's?«
Carola schüttelte den Kopf. Darüber wollte sie nicht sprechen. Minutenlang weinte sie. Frau Dr. Petersen saß stumm dabei und fand, daß Carolas Tränenstrom genau das Richtige sei. Ein junges Mädchen müsse sich in einer solchen Situation ausweinen können. Helfen kann ich dir allerdings auch nicht, dachte die Lehrerin. Wenn du deshalb zu mir gekommen bist, muß ich dich leider enttäuschen.
Frau Dr. Petersen ahnte den wahren Grund dieses Besuches nicht im entferntesten.
Endlich begann Carola sich etwas zu beruhigen. Sie hörte auf zu weinen, putzte sich die Nase, steckte das Taschentuch ein und blickte ihre Lehrerin, mit der sie sich immer glänzend verstanden hatte, traurig an. Dann ließ sie die Bombe platzen.
»Ich verlasse die Schule, Frau Doktor.«
Noch dachte die Studienprofessorin, daß Carola an ein anderes Gymnasium wechseln wolle.
»So kurz vor dem Abitur?« meinte sie erstaunt. »Wohin gehen Sie denn?«
»Nirgendwohin. Ich will nicht mehr zur Schule. Ich steige aus.«
»Waas? Sie?«
Carola nickte.
»Ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden. Das war mir ein Herzensbedürfnis. Ich wollte nicht einfach verschwinden.«
Frau Dr. Petersen war aufgesprungen und stand erregt vor dem Mädchen.
»Aber das ist doch nicht Ihr Ernst, Carola? Die Schule verlassen? Alles hinschmeißen? Und das alles wegen eines Mannes? Meinetwegen jede andere in der Klasse, doch nicht Sie.«
»Mein Entschluß steht fest, Frau Doktor.«
»Blödsinn, Carola, Sie sind noch so jung, Sie werden noch viele Männer kennenlernen, glauben Sie mir, viel, viel nettere. Ich will Ihnen etwas verraten: Auch ich befand mich einmal in einer ähnlichen Lage, ihr jungen Leute glaubt das nur nicht von uns älteren, aber damals dachte ich auch, die Welt ginge unter, und was war ein halbes Jahr später? Der betreffende …«
»Mein Entschluß steht fest«, wiederholte Carola, den aufgeregten Wortschwall der Studienprofessorin unterbrechend.
»Was sagen Ihre Eltern dazu?«
»Sie sind damit einverstanden«, log Carola. Ihre Eltern hatten noch keine Ahnung von der ganzen Sache.
Morgen gehe ich zu ihnen, dachte Frau Dr. Petersen, und rede mit ihnen. Das wäre ja Wahnsinn. Heute geht's nicht mehr, in einer Stunde holt mich Albert ab.
Albert, geschlagen mit einer frigiden Frau, war ihr Freund. Er arbeitete als Ingenieur im Schiffsbau. Auch Frau Dr. Petersen war verheiratet, mit einem impotenten Mann. Was den Schiffsbauingenieur und die Studienprofessorin zusammenführte, lag also auf der Hand. Sie trafen sich jeden zweiten Sonntag.
Carola spürte, daß ihr schon wieder die Tränen kommen wollten. Sie machte es deshalb kurz, bedankte sich mit wenigen, aber herzlichen Worten für alles bei ihrer Lieblingslehrerin und verließ fluchtartig ihre Wohnung.
Morgen spreche ich mit den Eltern, dachte Frau Dr. Petersen noch einmal, dem Mädchen nachblickend. Heute geht's nicht mehr. Albert holt mich ab. Ich freue mich, aber eigentlich könnte er sich auch einmal an den Kosten für unser Zimmer beteiligen.
Als Frau Gertrud Petersen, Doktorin der Altphilologie und trotzdem eine Schiffsbauingenieurgeliebte par excellence, am Montag nachmittag im Haus Burghardt erschien, war es
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