Und das Leben geht doch weiter
an meinem Tisch allein bleibe. Auch mittags und abends. Geht das?«
»Selbstverständlich, gnädiges Fräulein.«
Dreieinhalb Tage lang hielt Carola das aus – allein an ihrem Tisch, allein auch auf ihrem Zimmer. Das war nämlich ihr Los, denn derjenige, auf den sie wartete und mit dem sie alles nur zu gern geteilt hätte – Tisch, Zimmer, Bett, alles –, ließ sich nicht mehr blicken.
»Detlev«, flüsterte sie nachts, wenn sie kein Auge zutat, »wo bleibst du, was ist los mit dir?«
Und plötzlich wußte sie es, nach knapp drei Tagen. In den Medien war immer wieder vor Lawinen gewarnt worden. Er kann nur verunglückt sein, sagte sie sich, vielleicht noch am selben Tag, als wir uns hier getrennt haben.
Sie stürzte zu Senden ins Büro.
»Ich suche den Bergbauernhof der Familie Anthofer.«
»Den was?«
»Hier in der Nähe muß es doch einen Bergbauern namens Josef Anthofer geben. Seine Frau heißt Maria. Zwei Söhne sind im Priesterseminar, und die Tochter ist die jüngste bayerische Klosterschwester.«
Senden mußte sich das Lachen verkneifen, als er erwiderte:
»Sie meinen unsere allseits bekannte heilige Familie, gnädiges Fräulein.«
»Ja.«
»Und diese Familie suchen Sie?«
»Ja.«
»Wollen Sie sie besuchen?«
Carolas Ungeduld wuchs.
»Ja.«
»Das sind zwei Stunden Weg, bergauf, bergab – schwer zu gehen.«
»Kann man sie anrufen?«
»Nein, die lehnen alles Moderne ab: Telefon, Fernsehen, sogar Kunstdünger.«
»Beschreiben Sie mir bitte den Weg.«
Carola mußte einige Widerstände überwinden, ehe ihre Bitte erfüllt wurde. Direktor Senden scheute sich nicht, ihr Vorhaben als eine Angelegenheit zu bezeichnen, die jeglicher Vernunft entbehrte. Carola war aber nicht umzustimmen. Das einzige, was ihr zugute käme, sagte Senden, sei die Tatsache, daß es tagelang nicht mehr geschneit habe und der Weg zum Hof regelmäßig von einem Trecker befahren werde, der von den einsam gelegenen Gehöften die Milch abholte. Die Treckerspuren machten den Weg einigermaßen passierbar.
»Täuschen Sie sich aber nicht, gnädiges Fräulein. Das, was Sie sich da in den Kopf gesetzt haben, ist immer noch, entschuldigen Sie den Ausdruck, Irrsinn.«
Die ist nicht zu heilen, dachte er dabei. Man sollte meinen, ihr würde das, was sie erlebt hat, für einige Zeit reichen. Ich möchte nur wissen, was sie dort will. Fragen kann ich sie ja nicht, das wäre indiskret.
»Gab es in den letzten Tagen hier in der Umgebung einen Unfall?« erkundigte sich Carola unbeirrt.
»Unfall? Sicher, sogar mehrere. Die Haxen werden sich manche gebrochen haben.«
»Ich meine, einen tödlichen. Ein Lawinenopfer oder so.«
»Nein, davon hätte ich gehört. Außerdem hätte es in der Zeitung gestanden.«
Dieses Gespräch fand gegen halb neun Uhr früh statt. Gute zwei Stunden später sah Frau Maria Anthofer, als sie zufällig aus dem Küchenfenster blickte, eine Gestalt auf das Gehöft zukommen, deren Bewegungen völlige Verausgabung verrieten. Der ist fertig, dachte sie, merkte aber dann, daß sie sich korrigieren mußte: Die ist fertig.
Josef Anthofer traf im Stall die nötigen Vorbereitungen zur Fütterung des Viehs. Was sich draußen zutrug, entging ihm.
Die Begrüßung zwischen der Bäuerin und Carola entbehrte jedes Überschwangs.
»Guten Tag«, sagte Carola.
»Grüß Gott«, antwortete Maria Anthofer mit Betonung.
»Sind Sie Frau Anthofer?«
»Wer sind denn Sie?«
»Darf ich mich setzen?« fragte die schweißgebadete Carola, der die Knie zitterten.
Auf den nächsten Stuhl niedersinkend, sagte sie: »Mein Name ist Carola Burghardt.«
»Sie sind ziemlich fertig, was?«
»Ich habe den Weg hierher unterschätzt«, antwortete Carola mit einem gequälten Lächeln.
»Warum waren Sie denn so dumm, diese Schinderei auf sich zu nehmen?«
»Das erkläre ich Ihnen gleich. Kann ich erst noch einen Schluck Wasser haben?«
»Mögen Sie ein Glas Milch?«
»Gern, das wäre herrlich, danke.«
Während die Bäuerin die Milch einschenkte und Carola brachte, fragte sie: »Woher kommen Sie denn?«
»Aus Hamburg.«
»Ich meine, woher Sie jetzt kommen, als Urlauberin. Sie sind doch eine?«
»Vom Eibsee. Ich wohne dort im Hotel.«
»Und dieses Stückchen Weg hat Ihnen so zugesetzt?«
Carola trank wortlos ihre Milch aus, setzte das Glas ab und blickte die Bäuerin an.
»Ich suche Herrn Padenberg.«
Das Gesicht der Bäuerin wurde mißtrauisch.
»Was wollen Sie denn von dem?«
Carola war nach allem, was sie von den Anthofers
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