Und dennoch ist es Liebe
etwas, das Nicholas nicht sehen konnte. Wie Max, so zeigte auch ihr Gesicht unverhohlene Überraschung, als hätte man ihr gerade gesagt, sie müsse noch ein wenig länger bleiben.
»Ja«, sagte Astrid, nahm Nicholas die Bilder ab und legte sie nebeneinander auf den Tisch. »Ganz eindeutig. Die Augen seiner Mutter.«
Nicholas schob das Bild von Paige hinter das von Max. »Hoffen wir«, sagte er, »dass das alles ist, was er von ihr erbt.«
K APITEL 27
P AIGE
Die Fly-By-Night-Farm war eigentlich gar keine Farm. Eigentlich war sie nur Teil eines größeren Komplexes, der sich Pegasus Stables nannte, wie man dem einzigen Schild entnehmen konnte, das von der Straße aus zu sehen war. Doch als ich den Wagen geparkt hatte und an dem träge dahinfließenden Bach und den im Paddock tänzelnden Pferden vorbeiging, bemerkte ich ein kleines Schild aus Ahornholz: FLY BY NIGHT. LILY RUBENS, EIGENTÜMER.
Ich hatte an diesem Morgen mit der Frau gesprochen, der inzwischen der Reiterladen mit den Pferden meiner Mutter an der Decke gehörte. Sie hatte mir erklärt, wo ich hinmusste. Meine Mutter hatte das Deckenbild vor acht Jahren gemalt, kurz nachdem sie nach Farleyville gezogen war. Irgendwann hatte sie ihre Geschäftslizenz gegen einen gebrauchten Sattel und gegen irgendeine Art Geschirr getauscht. Lily sei gut bekannt in der Pferdewelt, hatte die Frau gesagt. Wann immer Leute sie nach Reitunterricht fragten, schickte sie sie zu FLY BY NIGHT.
Ich ging in den kühlen, dunklen Stall und stand im Stroh. Als meine Augen sich an das schwache Licht gewöhnt hatten, sah ich, dass ich nur wenige Zoll von einem Pferd entfernt war, es blies mir seinen heißen Atem ins Ohr. Ich legte die Hand auf das Gitter in der Tür der Box. Das Pferd schnaubte, bleckte die Zähne und versuchte, an meiner Hand zu knabbern. Als seine Lippen meine Haut berührten, hinterließen sie einen grünen Schleim, der leicht nach Heu roch.
»An Ihrer Stelle würde ich das lieber nicht tun«, sagte eine Stimme, und ich wirbelte herum. »Aber andererseits bin ich ja Sie, und Sie sind ich, und das ist ja das Schöne daran.« Ein Junge, nicht älter als achtzehn, stützte sich neben einer Schubkarre voll Mist auf eine seltsam geformte Harke. Er trug ein T-Shirt mit dem Porträt von Nietzsche, und er hatte sein schmutzig blondes Haar hinter dem Kopf zusammengebunden. »Andy beißt«, sagte er und trat vor, um dem Pferd die Nase zu streicheln.
Dann verschwand er genauso schnell, wie er gekommen war, in einer anderen Box. Die bestand gut zur Hälfte aus Boxen mit Pferden in den unterschiedlichsten Farben, vom Schimmel bis zum Rappen.
Ich ging den Hauptgang hinunter, vorbei an dem Jungen, der Haufen nasses Stroh in die Schubkarre lud. Meine Mutter war offensichtlich nicht in diesem Stall, und ich seufzte erleichtert. Am Ende des Gangs sah ich einen kleinen Tisch. Darauf standen eine kleine Holzkiste, eine Kladde und ein Astrid-Prescott-Kalender – ausgerechnet von ihr –, der das aktuelle Datum zeigte. Ich strich mit dem Finger über das Bild des in Nebel gehüllten Kilimandscharo, und ich fragte mich, warum meine Mutter nicht auf die gleiche Art hatte fliehen können, wie Nicholas’ Mom es bis heute tat: immer nur für wenige Monate, aber mit dem Versprechen, wieder nach Hause zu kommen. Mit einem Seufzen schlug ich die Kladde auf, und neben Zeitangaben standen weibliche Vornamen: Brittany, Jane, Anastasia, Merleen. Die Handschrift war die meiner Mutter.
Ich erinnerte mich an ihre Handschrift, auch wenn ich die Worte damals noch nicht hatte lesen können. Ich erinnerte mich daran, dass ihre Buchstaben stets nach links geneigt waren, während die meisten anderen Schriften, die ich kannte, sich mehr nach rechts orientierten. Oder zumindest hatten die Schwestern mir das später so im Kalligrafiekurs erklärt. Selbst mit ihrer Handschrift widersetzte meine Mutter sich dem System.
Ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn ich sie erst einmal gefunden hatte. Ich hatte keine Rede vorbereitet oder so. Einerseits hätte ich sie am liebsten einfach angeschrien, eine Minute für jedes Jahr, da sie mich alleingelassen hatte. Dann wieder wollte ich sie nur berühren, um zu sehen, ob ihre Haut genauso warm war wie meine. Und trotz der Umstände wollte ich glauben, dass ich ein wenig wie sie geworden war. Ich hoffte das so sehr, dass es wehtat, doch gewettet hätte ich darauf nicht. Immerhin wusste ich noch nicht einmal, ob ich ihr um den Hals fallen oder ihr vor die
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