Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
andere als die, die mich im Stich gelassen hatte, als ich fünf Jahre alt gewesen war. Ich hatte die vergangenen Tage – nein, die vergangenen zwanzig Jahre – damit verbracht, Vergleiche zwischen uns anzustellen, und mich allen möglichen Vermutungen hingegeben. Ich wusste, dass wir uns äußerlich ähneln würden. Ich wusste, dass wir beide unser Heim verlassen hatten, auch wenn ich noch immer nicht wusste, aus welchem Grund sie gegangen war. Ich hatte mir vorgestellt, dass sie die Arme nach mir ausstrecken würde. Ich hatte gehofft, dass ich endlich an dem Ort sein würde, an den ich gehörte. Ich hatte mir vorgestellt, dass wir gleich klingen, gleich gehen und gleich denken würden. Doch das hier war ihre Welt, und ich wusste nichts darüber. Das hier war ihr Leben, und es war auch ohne mich ganz gut gelaufen. Die Wahrheit war, dass ich sie kaum gekannt hatte, als sie mich verlassen hatte, und nun kannte ich sie gar nicht mehr. »Ein Freund von mir kannte einen Privatdetektiv, und der hat dich bis zu Bridles & Bits verfolgen können«, erklärte ich, »und dann habe ich die Decke gesehen.«
    »Die Decke …«, flüsterte meine Mutter gedankenverloren. »Oh, die Decke . Wie in Chicago.«
    »Wie in Chicago«, erwiderte ich verbittert.
    Meine Mutter drehte sich unvermittelt zu mir um. »Ich habe dich nicht verlassen wollen, Paige«, sagte sie. »Ich wollte einfach nur … weg.«
    Ich zuckte mit den Schultern, als sei mir das vollkommen egal. Ich dachte an Max’ kleines, rundes Gesicht und an Nicholas, der mich an seine warme Brust zog. Ich hatte sie auch nicht verlassen wollen. Auch ich wollte einfach nur … weg. Ich lief nicht vor ihnen weg, ich lief einfach nur. Ich schaute meine Mutter aus dem Augenwinkel heraus an. Vielleicht beschränkte sich die Ähnlichkeit doch nicht nur auf Äußerlichkeiten. Womöglich hatten wir doch mehr gemein, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.
    Als wisse sie, dass ich einen Beweis brauchte, pfiff meine Mutter nach dem Pferd am anderen Ende der Weide. Das Tier explodierte förmlich und raste auf uns zu, wurde aber langsamer, als es sich meiner Mutter näherte. Leichtfüßig trabte es einige Male im Kreis, dann wurde es vollkommen ruhig. Das Pferd nickte, beugte sich vor und knabberte an der Hand meiner Mutter.
    Das Pferd war definitiv das schönste Tier, das ich je gesehen hatte. Ich wollte es zeichnen, aber ich wusste, dass es mir nie gelingen würde, seine Energie auf Papier zu bannen. »Das ist mein bestes Showpferd«, sagte meine Mutter. »Es ist mehr als fünfundsiebzigtausend Dollar wert. Das alles hier« – mit einer weit ausholenden Geste deutete sie auf die Farm –, »mein Reitunterricht und alles, was ich sonst noch mache, das alles dient nur dazu, ihn am Wochenende auf Shows zu zeigen. Das kostet viel Geld. Wir treten nur bei Eliteshows auf, und oft machen wir den ersten Platz.«
    Ich war beeindruckt, verstand aber nicht, warum sie mir das ausgerechnet jetzt sagte, wo es doch so viel andere Dinge zu besprechen gab. »Mir gehört das Land hier nicht«, fuhr meine Mutter fort und zog dem Pferd ein Halfter an. »Ich habe es von den Pegasus Stables gepachtet. Und ich habe auch mein Haus, meinen Pferdeanhänger und meinen Truck von ihnen gemietet. Dieses Pferd hier ist so ziemlich das Einzige auf der Welt, von dem ich sagen kann, dass es mir gehört. Verstehst du?«
    »Nicht wirklich«, erwiderte ich ungeduldig und trat einen Schritt zurück, als das Pferd den Kopf hochriss, um eine Fliege zu verscheuchen.
    »Dieses Pferd heißt Donegal«, sagte meine Mutter, und das Wort weckte Erinnerungen, wie es das schon immer getan hatte. Donegal hieß die Gegend in Irland, in der mein Vater geboren war, der Ort, von dem er uns immer und immer wieder erzählte, als ich noch klein war. Kleefelder, die wie Smaragde funkeln; gemauerte Schornsteine, die bis in die Wolken ragen, und Flüsse so blau wie die Augen deiner Mutter.
    Eddie Savoy hatte mir gesagt, die meisten Menschen könnten nie ganz aufgeben, was sie zurückgelassen hatten. »Donegal«, wiederholte ich, und diesmal streckte meine Mutter die Arme aus, und ich trat zu ihr und staunte, dass alte Erinnerungen plötzlich wieder Fleisch und Blut werden konnten.
*
    »Ich habe jahrelang gehofft, dass du kommen würdest«, sagte meine Mutter und führte mich die Stufen zur Veranda des kleinen weißen Schindelhauses hinauf. »Wenn ich all die kleinen Mädchen sehe, die zu mir in den Reitunterricht kommen, dann habe ich mir

Weitere Kostenlose Bücher