Und dennoch ist es Liebe
dem Stall, in dem der Junge gemistet hatte. Ich wollte ihn noch einmal nach dem Weg fragen. Als ich den Hügel hinaufging, sah ich den Mann, der im Parcours all die Sachen gerufen hatte, die ich nicht hatte verstehen können. Mit der einen Hand hielt er Eddy am Zügel fest, und in der anderen hatte er einen Schwamm, doch sobald er damit Eddys Flanke berührte, schreckte das Pferd davor zurück. Ich blieb auf Distanz. Der Mann strich dem Pferd mit dem Schwamm über den Rücken, und wieder sprang es zurück. Schließlich ließ der Mann den Schwamm fallen und schlug Eddy zweimal mit dem Zügel leicht auf den Hals. Das Pferd beruhigte sich und senkte den Kopf, und der Mann redete leise auf es ein und streichelte ihm den Rücken.
Ich beschloss, den Mann nach meiner Mutter zu fragen. Er legte den Schwamm beiseite und hob den Kopf, doch er hatte mir noch immer den Rücken zugekehrt. »Bitte, entschuldigen Sie«, sagte ich leise, und er wirbelte so schnell herum, dass ihm die Kappe vom Kopf fiel und dunkelrotes Haar zum Vorschein kam.
Das war kein Mann. Das war meine Mutter.
Sie war größer als ich und schlanker, und ihre Haut war honigfarben. Aber ihr Haar war wie meines und ihre Augen auch, jeder Irrtum war ausgeschlossen. »Oh, mein Gott«, sagte sie.
Das Pferd schnaubte über ihrer Schulter, und Wasser tropfte aus der Mähne und auf das Hemd meiner Mutter, doch sie schien das nicht zu bemerken. »Ich bin Paige«, sagte ich steif, und instinktiv streckte ich die Hand aus. »Ich bin … äh … deine Tochter.«
Meine Mutter begann zu lächeln, und so als würde dieses Lächeln sie allmählich entspannen, konnte sie sich auch wieder bewegen. »Ich weiß, wer du bist«, sagte sie. Sie nahm nicht meine Hand. Sie schüttelte nur den Kopf und schlang die Finger um den Lederzügel. Nervös scharrte sie mit ihren Stiefeln in dem lockeren Kies. »Lass mich nur schnell Eddy wegbringen«, sagte sie. Sie zog das Tier herum, wandte sich mir dann aber noch einmal zu. Ihre Augen waren groß und blass, die Augen einer Bettlerin. »Geh nicht weg«, bat sie mich.
Ich folgte ihr ein paar Schritte hinter dem Pferd. Sie verschwand in einer Box – in der, die der Junge ausgemistet hatte – und nahm dem Pferd das Halfter ab. Dann kam sie wieder heraus, schloss die Boxentür und hing das Lederhalfter an einen Nagel in der Wand. »Paige«, sagte sie so leise, als wäre es verboten, meinen Namen laut auszusprechen.
Dann berührte sie mich sanft an der Schulter. Ich konnte nicht anders. Ich schauderte und wich unwillkürlich zurück. »Tut mir leid«, sagte ich und schaute weg.
In diesem Moment kam der Junge wieder zurück. »Ich bin für heute fertig, Lily«, erklärte er, obwohl wir erst Mittag hatten.
Meine Mutter riss ihre Augen von mir los. »Josh«, sagte sie, »das ist Paige. Meine Tochter, Paige.«
Josh nickte mir zu. »Cool«, sagte er und drehte sich dann wieder zu meiner Mutter um. »Aurora und Andy müssen noch reingeholt werden. Ich sehe dich dann morgen. Obwohl«, fügte er hinzu, »das Morgen nur die Kehrseite des Heute ist.«
Als er den Mittelgang hinunterging, drehte meine Mutter sich wieder zu mir um. »Er ist ein wenig durchgeknallt«, erklärte sie, »aber er ist alles, was ich mir im Augenblick leisten kann.«
Ohne ein weiteres Wort verließ meine Mutter den Stall und ging den Pfad zu der großen Weide hinauf. Am Gatter angekommen, stützte sie sich mit den Ellbogen darauf und betrachtete das Pferd am anderen Ende der Weide. Selbst auf diese Entfernung konnte ich deutlich erkennen, dass es das größte Pferd war, das ich je gesehen hatte. Es war schlank und schwarzbraun mit Ausnahme seiner beiden Vorderbeine. Bis zum Knie waren sie schneeweiß, als wäre es gerade in eine Wolke getreten. »Wie hast du mich gefunden?«, fragte meine Mutter in nonchalantem Ton.
»Du hast es mir nicht leicht gemacht«, sagte ich gereizt. Ich kochte vor Wut. Meine Mutter schien sich nicht im Mindesten über mein Erscheinen aufzuregen. Ich war erschütterter als sie. Sicher, zuerst war sie überrascht gewesen, doch nun war sie cool und entspannt, als hätte sie gewusst, dass ich kommen würde. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich hatte mindestens so etwas wie Neugier von ihr erwartet und gehofft, dass es ihr irgendwie nahegehen würde.
Ich drehte mich zu ihr um und wartete darauf, dass irgendetwas an ihr Erinnerungen in mir weckte: eine Geste, ein Lächeln oder auch nur ihr Tonfall. Doch diese Frau hier war eine vollkommen
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