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Und dennoch ist es Liebe

Und dennoch ist es Liebe

Titel: Und dennoch ist es Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Mutter hatte mir für Ostern einen besonderen Mantel gekauft, so pink wie das Innere einer Lilie. Ich hatte sie angebettelt, ihn auch nach Ostern zur Schule tragen zu dürfen. »Nur einmal«, hatte ich geschrien, und schließlich durfte ich ihn anziehen. Doch auf dem Weg von der Schule nach Hause hat es geregnet, und ich hatte Angst, dass sie wütend auf mich sein würde, wenn der Mantel nass wird. Also habe ich ihn ausgezogen und zu einem Ball zusammengerollt. Die Nachbarstochter, die schon neun Jahre alt war und mich jeden Tag nach Hause brachte, half mir, ihn in meinen Ranzen zu stopfen.
    »Du kleiner Dummkopf«, hatte meine Mutter gesagt, als meine Freundin mich an der Tür verließ. »Du wirst dir noch eine Lungenentzündung holen.« Und ich war in mein Zimmer hinaufgerannt und hatte mich wütend aufs Bett geworfen – wütend, weil ich sie wieder einmal enttäuscht hatte.
    Doch andererseits war das auch die Frau, die mich mit fünf Jahren allein mit dem Bus durch Chicago hatte fahren lassen, weil sie mich für vertrauenswürdig gehalten hatte. Sie hatte einfache Gelatine mit Lebensmittelfarben blau gefärbt, weil sie wusste, dass das meine Lieblingsfarbe war. Sie hatte mir beigebracht, den Stroll zu tanzen, und mir gezeigt, wie ich meinen Saum festziehen musste, damit mir mein Rock nicht übers Gesicht fiel, wenn ich kopfüber vom Klettergerüst hing. Sie hatte mir meine ersten Buntstifte und mein erstes Malbuch gegeben, und sie hatte mich in den Arm genommen, wenn ich beim Ausmalen Mist gebaut hatte, und mir gesagt, die Begrenzungslinien seien nur für Menschen ohne Fantasie. Sie hatte sich selbst in jemanden verwandelt, der größer war als das Leben – in jemanden, dessen Gesten ich abends im Badezimmer übte, denn wenn ich groß war, wollte ich so sein wie sie.
    Die Nacht schloss uns ein und erstickte jedes Geräusch. »So schlecht warst du als Mutter gar nicht«, sagte ich.
    »Vielleicht hast du da recht«, flüsterte meine Mutter. »Vielleicht aber auch nicht.«

K APITEL 30
    N ICHOLAS
    Zum ersten Mal seit Jahren zitterten Nicholas’ Hände, als er dem Patienten die Brust aufschnitt. Blut floss in den sauberen Schnitt, den das Skalpell hinterließ, und Nicholas schluckte die Galle hinunter, die in ihm aufstieg. Alles, nur das nicht , dachte er. Den Everest besteigen, ein Wörterbuch auswendig lernen, in einem Krieg kämpfen. Das alles musste leichter sein, als Alistair Fogerty höchstpersönlich einen vierfachen Bypass zu legen.
    Nicholas musste nicht unter das sterile Tuch schauen, um zu wissen, welches Gesicht zu dem furchtbaren, orangefarbenen Leib gehörte. Jeder Muskel und jede Falte in diesem Gesicht waren ihm ins Gedächtnis eingebrannt. Immerhin hatte er acht Jahre lang Fogertys Beleidigungen und seine grenzenlosen Erwartungen ertragen. Und jetzt hielt er das Leben dieses Mannes in den Händen.
    Nicholas griff zur Säge und schaltete sie ein. Sie vibrierte in seiner Hand, als er den den Brustbeinknochen durchschnitt. Dann spreizte er die Rippen und überprüfte die Lösung, in der die bereits entnommenen Beinvenen schwammen. Er stellte sich vor, wie Alistair Fogerty hinter ihm stand, und er spürte seine Gegenwart wie den schalen Atem eines Drachen im Nacken. Nicholas schaute zu seinem Assistenten. »Ich denke, wir sind bereit«, sagte er und sah, wie seine Worte den Mundschutz blähten, als hätten sie Sinn oder Substanz.
*
    Robert Prescott hockte auf allen vieren auf dem Aubusson-Teppich und rieb Perrier in einen runden gelben Fleck, der teils aus Kotze und teils aus Süßkartoffeln bestand. Nun, da Max allein sitzen konnte – wenn auch nur für ein paar Minuten –, hatte sich auch die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass er ausspie, was auch immer er zuletzt gegessen oder getrunken hatte.
    Robert hatte versucht, die Zeit als Babysitter zu nutzen, um Patientenakten für den nächsten Morgen durchzugehen, doch Max hatte die Angewohnheit, die Akten von der Couch zu ziehen und das Papier zu zerknittern. Einen Umschlag hatte er sogar so gut durchgekaut, dass er in Roberts Händen förmlich zerfiel.
    »Na also«, sagte Robert und setzte sich auf die Fersen. »Das sieht ja schon wieder genauso aus wie vorher.« Er schaute seinen Enkel stirnrunzelnd an. »Du hast doch nicht noch mehr davon gemacht, oder?«
    Max quengelte, er wollte auf den Arm genommen werden. Das war das Neueste – das und ein Spucken, mit dem er alles und jeden in einem Meter Umkreis traf. Robert hatte gedacht, dass Max vielleicht

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